: SeikeinSchaf
Unser Autor Helmut Höge macht sich auf die Suche nach Schafen in Berlin. Zwischendurch liest er Foucault und regt sich über schreckliche Hirtenreligionen auf
Von Helmut Höge
Jutta Behrens ist seit ihrem Kunsthochschulabschluss arbeitslos gemeldet, hat sich aber zu einer Schäferin fortgebildet, indem sie vier Praktika bei Schafzüchtern im Umland gemacht hat – ohne Wissen des Jobcenters: heimlich quasi. Zuletzt arbeitete sie in einem Ausbildungsbetrieb, wo ihr eine Lehrstelle („Tierpflegerin Schäferei“) angeboten wurde, wenn sie zuvor ein Dreimonatspraktikum absolviere. Ihr Arbeitsvermittler sagte jedoch: „Es gibt keine Schäfereien in Berlin – und deswegen Nein.“ Sein Vorgesetzter fügte hinzu: „Das Arbeitsamt ist kein Wunschkonzert!“ Außerdem zahle das Amt nur noch Einmonats-Praktika – „zum Schutz des Arbeitnehmers!“
Jutta gibt jedoch nicht auf, sie schätzt die ruhige Arbeit mit Schafen sehr, auch wenn in der Herde ein paar renitente Ziegen mitlaufen. Ein Hütehund ist ihr aber oft schon zu viel – und besonders Spaziergänger, die sie jedes Mal fragen: „Wie viele Schafe sind denn das?“ Jutta ist lieber ungestört und allein: „In jeder Wohngemeinschaft wäre ich eine Katastrophe,“ sagt sie.
Die Auskunft des Jobcenters war natürlich falsch: Es gibt etliche Schäfereien in Berlin, erwähnt sei die größte von Björn Hagge am Spandauer Hahneberg, der 530 Schafe und 20 Ziegen hält, sowie der Stadtschäfer, dessen Tiere das Flugfeld Johannisthal beweiden, ferner die zwei Schäfer, die mit einer Herde Pommerscher Landschafe die Grünflächen des Lichtenberger Landschaftsparks Herzberge pflegen, und der Schäfer Knut Kucznik, der seine 200 Schafe auf dem ehemaligen Tempelhofer Flugfeld hütet, wo 2018 auch das erste Berliner „Schäferfest“ stattfand. Es gibt hier ferner den Schafzuchtverband Berlin-Brandenburg, der 100 Herdbuchzüchter betreut und auf der Grünen Woche für seine Weiterbildungskurse in „Tiergerechter Schaf- und Ziegenhaltung“ wirbt.
Gelegentlich gibt es Demonstrationen von Schäfern vor dem Landwirtschaftsministerium; an der Humboldt-Uni bei den Agrar- sowie bei den Kulturwissenschaftlern gibt es eine gediegene Schafforschung. Bei den Ersteren, wo seltsamerweise viele Dozenten Schäfer heißen, wird praktisches Schafwissen gelehrt (das wichtigste Buch zur Schafhaltung wurde dort bereits zu DDR-Zeiten veröffentlicht).
Bei Letzteren hat Professor Thomas Macho über „Politische Pastorate“ doziert, also über diese drei schrecklichen Hirtenreligionen, die aus den verschiedenen Hütemethoden von Schäfern hervorgegangen sind. In seiner „Geschichte der Gouvernementalität“ hat der Wissenshistoriker Michel Foucault herausgearbeitet, dass die Idee einer „pastoralen Macht“ (Häuptling, König, Gott) im Orient entstand: „Man findet diese Machtvorstellung in Ägypten, Assyrien und Babylon. Der Titel des ‚Hirten‘, des ‚Pastors‘, gehörte zur königlichen Titulatur für die babylonischen Monarchen.“ Vor allem bei den Hebräern wurde dann das „Pastorat ein grundlegender Verhältnistypus zwischen Gott und dem Menschen“, aus dem sich die anderen zwei Monotheismen herauskristallisierten. Es ging dabei nicht um das Besetzen eines Territoriums: „Die Macht des Hirten wird per definitionem auf eine Herde ausgeübt.“
Der Hirte und die Herde
Dem griechischen Denken ist die Idee fremd, dass die Götter die Menschen wie ein Hirte seine Schafherde führen. Sie haben „territoriale Götter“. Die orientalische Hirtenmacht werde, so Foucault, dagegen auf „eine Herde in ihrer Fortbewegung, in der Bewegung“ ausgeübt. Das „Heil der Herde ist für die pastorale Macht das wesentliche Ziel“.
Foucault meint, der Schäfer/Hirte verliere kein verirrtes Schaf aus seiner Herde. In der „hebräischen Thematik der Herde“ schulde der Hirte seinen Schafen alles, „derart, dass er hinnimmt, sich selbst für das Heil der Herde zu opfern“. Dass er seine Herde gegebenenfalls im Stich lässt, um eins zu retten, das sich verirrt hat, nennt Foucault „das Paradox des Hirten“, der das eine für das Ganze opfere und das Ganze notfalls für das eine: „Etwas, das im Mittelpunkt der christlichen Problematik des Pastorats steht.“ Dabei habe der „abendländische Mensch“ in Jahrtausenden gelernt, „was zweifellos kein Grieche je zuzugestehen bereit gewesen wäre, sich als Schaf unter Schafen zu betrachten“.
Es gibt jedoch neben diesen armseligen Gläubigen auch noch ganz viele richtige Schafe, die nicht aus Gottesebenbildlichkeit entstanden, sondern von Mufflons abstammen. Sie stehen mir natürlich viel näher als alle Monotheismusanhänger (die sich Gott unterwerfen).
Das Interessante an den Berliner Schafen ist nun, dass sie gerade nicht geschlachtet oder geschächtet werden: Hier dürfen sie noch oder besser: schon eines „natürlichen Todes“ sterben. Das war nicht immer so: Mindestens in Kreuzberg stand bis in die Achtzigerjahre vor dem islamischen Opferfest bei den Türken gelegentlich ein lebendes Westberliner Schaf als Sohnersatz auf ihrem Balkon – danach hing sein Fell über dem Geländer.
Heute hat fast jeder Bezirk einen subventionierten Kinderbauernhof und diese alle eine kleine Schafherde, der in Hellersdorf sogar eine große mit Braunen Bergschafen und Thüringer Waldziegen. In Kreuzberg kommt noch ein weiterer nichtsubventionierter Hof mit zwei Schafen (Luna und Blanca) dazu, sowie die Schafe und Ziegen im Tiergehege am Fuße des Kreuzbergs. In Neukölln gibt es den Streichelzoo des Volksparks Hasenheide, der seine Schafherde zum Abweiden ausleiht. Die Verwaltung der Pfaueninsel, des Pankower Bürgerparks und der Naturschutzstation Marienfelde halten eigene kleine Herden.
Dahlemer Spinn- und Webgruppe
In Marienfelde schlug kürzlich der Schafsbock mehrere Verbrecher in die Flucht. Die Neuköllner und Kreuzberger Streichelherden wurden schon mehrmals nächtens von Schaf- bzw. Ziegenmördern heimgesucht, zwei töteten unter anderem die bezaubernde kleine, dazu noch hochschwangere Angoraziege Lilly, und sitzen dafür jetzt im Gefängnis in Tegel. Dort werden die Wiesen am Flughafensee sowie das Vogelschutzgebiet am Flughafen beweidet (mit 46 Gotlandschafen, Heidschnucken und drei Bergziegen).
Die vornehme Öko-Domäne Dahlem hat nicht nur eine Schafherde, sondern auch eine kommerzielle Spinn- und Webgruppe. Der Tagesspiegel schreibt, dass das Schaf „Pünktchen“ am beliebtesten ist, weil es feinste Wolle liefert. Bei der Schafherde im Gutshof des Britzer Schlosses handelt es sich dagegen um eine „robuste Tierrasse“.
Den von der Senatsumweltverwaltung angestellten Stadtschäfer Hagge könnte man mit seinen Hunden Julie und Jake sogar als einen Wanderschäfer bezeichnen, auch wenn er seine Schafe nicht wie die Schäfer in Paris zu den einzelnen Weideflächen treibt, sondern mit dem Lastwagen transportiert – unter anderem zu den Wiesen an der Düne im Grunewald, in der Murellenschlucht an der Waldbühne, im Naturpark Schöneberger Südgelände und am Schloss Charlottenburg. Hier weiden allein 100 Schafe, sie verschonen im Gegensatz zum Motormäher nicht nur die Insekten, sondern „tragen auch zur Entspannung der Städter bei“, sagte der Schloßparkleiter Gerhard Klein zur Stadtschafforscherin Annette Kuhn, die der Meinung ist, dass Stadtschafe „im Kommen seien, eine Entwicklung, die vor etwa 15 Jahren begann.“ Derk Ehlert, der Tierexperte bei der Senatsverwaltung für Umwelt, fügte hinzu: „In der Stadt ist die Schafhaltung meist kostendeckend“.
Zu den ältesten Schafhaltungen in Berlin zählt der Westberliner Zoo und der Ostberliner Tierpark. Hier erfuhr ich von einem kleinen Mädchen, dass innerhalb und außerhalb des Streichelgeheges sechs Schafrassen in kleinen Gruppen gehalten werden: Hissar-Schafe aus Tadschikistan, baltische Skudde, Gescheckte Bergschafe aus den Alpen, Mongolenschafe, Rotkopfschafe aus den Pyrenäen, Walliser Schwarznasenschafe und ein Kreishornschaf, dieses starb jedoch im Winter, wie ich einem Aushang des Tierparks entnahm. Vielleicht beim Ablammen?
In der anderen Rubrik „Neugeburten“ fand ich jedoch mehrere Lämmer nicht aufgeführt, unter anderem das Lamm einer Rotkopfschafmutter. Es traute sich aus der „Ruhezone“ heraus an einen Zaun, hinter dem ein Schafbock stand – gleich drei Kinder umringten und streichelten es. Die bis dahin dösende Mutter stand unruhig auf und beobachtete das aus einiger Entfernung, irgendwann wurde es ihr zu viel und sie lockte ihr Junges zurück, indem sie einmal leise blökte – in einem ganz anderen Ton als ihr sonstiges Blöken. Ihr Lamm reagierte sofort, kam angerannt und stürzte sich geradezu an ihr Euter. Das Mädchen, das eine Jahreskarte für den Tierpark hatte, machte mich darauf aufmerksam, dass eines der Somalischafe hinke, die für die Tiere im Streichelgehege zuständige Pflegerin wisse jedoch Bescheid. Den Schafen in der Stadt werden die wilden Wölfe (noch) nicht gefährlich, dafür reißt jedoch von den etwa 100.000 zahmen Stadthunden immer mal wieder einer eins. Für die Schafe macht das keinen Unterschied.
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