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Der Prä-Postkolonialist

Alexander von Humboldt war Weltreisender, Naturforscher und Kammerherr am preußischen Hof. Seine Beschreibung der Welt veränderte die Wissenschaft. Nun, 250 Jahre nach seiner Geburt, würde man ihn wohl als Ökologen und Globalisierungskritiker bezeichnen

Alexander von Humboldts Zeichnung des Vulkans Chimborazo in Ecuador enthält detaillierte Informationen über die Pflanzen der unterschiedlichen Höhenlagen auf dem Berg. Von 1799 bis 1804 bereiste Humboldt Amerika Foto: Science Source/akg-images

Von Cord Riechelmann

Die Chance, die die Feier des 250sten Geburtstags von Alexander von Humboldt bietet, liegt in der Betonung eines anderen Datums, das hierzulande bestimmt nicht gefeiert werden wird. Das prägendste Ereignis für das politische Denken Humboldts wird sein Leben lang der Ausbruch der Französischen Revolution 1789 sein, nur wenige Wochen vor Humboldts zwanzigstem Geburtstag am 14. September. Humboldt bewahrte die „Ideen von 1789 im Herzen“, wie er später nicht nur einmal sagte. Die Revolution begeisterte ihn so sehr, dass er 1790 zu ihrem ersten Jahrestag nach Paris reiste und eigenhändig mithalf, Sand für den Bau der „Freiheitstempel“ herbeizukarren, wie Andrea Wulf in ihrer zu Recht gefeierten Humboldt-Biografie „Die Erfindung der Natur“ schreibt.

Man hat damit eine der Kraftlinien, an denen entlang sich Humboldt durch die Welt ziehen wird, benannt. Wobei diese Kraftlinie von einer Bewegung erst prästabilisiert und dann mitgetragen werden wird. Humboldt ging sein ganzen Leben gern spazieren. Von den frühen Gängen durch die Wälder von Tegel über die südamerikanischen Anden bis zu den Bergen und Ebenen Russlands, die er als Sechzigjähriger 1829 auf seiner letzten großen Reise durchwandert, wird er seine Begleiter durch seine Ausdauer beeindrucken. Die Exkursionen zu Fuß hätten ihn die Poesie der Natur gelehrt, wie er sagte. „Er fühlte die Natur, weil er sich durch sie hindurchbewegte“, wie Andrea Wulf zusammenfasst.

Spazieren gehen, muss man hinzufügen, war für Humboldt ein ethischer Akt. In der Bewegung vermochte er seine Fähigkeiten zusammenzuführen, ohne ihre Unterschiede in falschen Synthesen zu verkochen. Das Fühlen der Natur hatte für Humboldt nichts mit romantischem Glotzen und dem Fantasieren von blauen Blumen zu tun. Es war für ihn zuerst die Knochenarbeit der Benennung, die er 1793 mit Studien zu unterirdisch in Höhlen wachsenden Pflanzen beginnt. Dabei entdeckt er so viele vorher unbeschriebene Pflanzen, dass er sich schnell in Fachkreisen einen Namen macht und auch Goethe seine Bekanntschaft sucht.

Humboldt muss aber selber schnell gemerkt haben, dass er neben seiner Begabung für die Konzentration auf das Kleinste, die Blütenorgane von Pflanzen etwa, auch eine außergewöhnliche Fähigkeit zum Perspektivwechsel hatte. Das Kleinste versperrte ihm nicht die Sicht auf das Größere, auf die Struktur und Verschiedenheiten von Landschaften – oder allgemeiner: auf die geografischen Großräume und ihre Wirkungen auch auf die Kultur. Die Fähigkeit, vom Kleinsten zum Großen zu wechseln, ohne dabei den Kategoriensprung zu übersehen, wird ihn in der Rückschau mit zwei anderen großen Empirikern und Theoretikern der Natur, nämlich mit Aristoteles und Charles Darwin, auf eine Ebene setzen.

Bis heute nicht überholt

Nur dass Humboldt in einem bestimmten Punkt viel weiter, um nicht zu sagen: aktueller vorgreift als die beiden anderen großen Denker der Naturvielfalt. Humboldt wird eine neue Form der Raumbeschreibung einführen, die bis heute nicht überholt ist. Eine Raumbeschreibung, die sich bei Humboldt naturwissenschaftlich gab, aber wesentlich mehr war, nicht zuletzt auch eine Form der Literatur, die sich der Montage bediente.

Die Revolution begeisterte ihn so sehr, dass er 1790 zu ihrem ersten Jahrestag nach Paris reiste und eigenhändig mithalf, Sand für den Bau der „Freiheits-tempel“ herbeizukarren

Humboldt entwickelt seine neue Form der Raumbetrachtung aber nicht in seinen bekannteren Erzählungen rund um seine Amerikareise, sondern in einem vergleichsweise entlegenen Werk, in „Zentral-Asien“, dem Reisewerk zu seiner Expedition von 1829. „Zentral-Asien“, das 1843 in französischer Sprache erschien und 1844 ins Deutsche übersetzt wurde, liegt dank der Arbeit des Berliner Literaturwissenschaftlers Oliver Lubrich seit 2009 in einer wunderbar material- und kommentarreichen Ausgabe vor.

Das über 900 Seiten dicke Buch ergibt zusammengenommen ein Ensemble der Raumbeschreibung, das private und öffentliche Räume so miteinander verbindet, wie es den Raum der Kultur mit dem der Natur konfrontiert. Humboldts Werk erschafft eine Kombinatorik, durch die ein Land, ein Großraum, der zu wesentlichen Teilen damals Neuland war, vermessen und kartografiert wird. Es bedient sich dabei der verschiedensten Techniken und – was wohl wichtiger ist – der unterschiedlichsten Autoren. Man könnte es von heute aus als ein Werk des Prä-Postkolonialismus lesen oder auch einer neuen Ökologie zurechnen, wie sie gerade Anna Loewenhaupt Tsing mit ihrem Buch „Der Pilz am Ende der Welt“ entworfen hat.

Neben indigenen Reiseroutenbeschreibungen kommt der Reisebericht eines Kirgisenhäuptlings genauso vor wie der persische Gelehrte Kazim-beg und die mongolisch-tartari­sche Geschichte des Khans ­Abulghazi. Der französische Biologe Achille Valenciennes äußert sich zu den Seehunden am Kaspischen Meer und einem ­Polypen im Toten Meer. Sein Pariser Kollege Georges Cuvier steuert einen historischen Bericht bei, und Herodot wird andauernd beratend hinzuzitiert. Das sind aber nur Bruchstücke der vielen Stimmen, die Humboldt hier versammelt, ohne sie stilistisch zu verschmelzen. Jeder behält seinen Ton, zusammengeführt werden sie alle über den Gegenstand Zentral­asien, der dem Buch äußerlich bleibt. Humboldt tut auf keiner Seite so, als könne er sich diese Landmassen schreibend einverleiben und dadurch beherrschen.

Das führt nicht nur zu einem heterogenen, um nicht zu sagen: hybriden Bild Zentralasiens, es führt in der Folge des Kulturenvergleichs zu einem Verlust der Mitte. Römer und Griechen verlieren ihr klassizistisches Maß als Ideal für Wissenschaft und Geschichte. Anschaulich wird das, wenn Humboldt die Vorstellungen über die Aralo-Kaspische Niederung referiert. „Während die arabischen Schriftsteller, Araber und Türken ebenso wie Armenier, eine topographische Kenntnis von diesem Becken zeigen, welche derjenigen weit überlegen ist, die Europa noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts besaß, hielten die Geographen des Abendlandes lange Zeit an der alexandrinischen Hypothese von einem Zusammenhang des kaspischen Meeres mit dem nördlichen Ozean fest“, schreibt er.

Es war die lebhafte Vorliebe für klassische Literatur, die die Europäer in die Irre geführt hatte. Während man hier weiterhin den Argonauten folgte, die über die Kaspische Senke in den Ozean gelangt sein sollten, hatten die Mongolen während der Kriege Dschingis Khans die Gegend im ganzen Umfang erforscht.

Der Bogen aus Humboldts Herbarium zeigt eine Passionsblume. Bis heute arbeiten Botaniker mit Humboldts Sammlungen Foto: Gilles Mermet/akg-images

Wenn es um die Geografie Zentralasiens geht, sind die Chinesen und Mongolen den Griechen und Römern überlegen. Man kann Humboldts stete Betonung der Kenntnisse der Einheimischen als Umkehrung seines Auftrags lesen, der entschieden imperial intendiert war und im Dienste der Kolonisierung Sibiriens stand. Europa befand sich 1829 tief in der Restauration, und der russische Zar Nikolaus I. war einer der tatkräftigsten Reaktionäre Europas. 1825 hatte er den Dekabristenaufstand gewalttätig niedergeschlagen und viele der führenden Reformer nach Sibirien verbannt. Genau dahin sollte Humboldt reisen, im Auftrag des Zaren und von ihm finanziert.

Politische Metaphern

Und Humboldt gibt gleich auf der ersten Seite der Einleitung seines Reiseberichts, den er für den Zaren verfasst, einen verdeckten Hinweis auf die Pro­blem­la­ge. Dort heißt es: „Es gibt in der Erhebung der Massen, in der Ausdehnung und Ausrichtung der Gebirgssysteme und in ihren Stellungen zueinander herrschende Grundzüge, die seit dem frühesten Altertum den Zustand der menschlichen Gesellschaften beeinflusst, die Tendenzen ihrer Wanderungen bestimmt und die Fortschritte der geistigen Kultur begünstigt oder verzögert haben.“ Die Geologie Humboldts arbeitet hier mit politischen Metaphern. Die Erhebung der Massen, im französischen Original „soulevement des masses“, bezieht sich vordergründig auf Gebirge, die aber mit dem Zustand der menschlichen Gesellschaften in Beziehung gesetzt werden. Dadurch bekommt die Formulierung auch die andere, die politische Bedeutung.

Es geht hier aber nicht darum, Humboldt von seiner Zustimmung zu den Bedingungen des Zaren reinzuwaschen. Die Verhältnisse sind klar. Humboldt hat nach seiner großen Amerikareise (1799–1804), die er selbst organisierte und finanzierte, sein ererbtes Vermögen „vernichtet“, wie er dem russischen Finanzminister schrieb, und war auf die Mittel anderer angewiesen. Eine zweite große Reise, die ihn nach Asien führen sollte, um die dortigen Gebirgszüge mit denen Südamerikas vergleichen zu können, konnte er nicht mehr selbst bezahlen. Da kam das Angebot des Zaren, den Ural und die Weiten Sibiriens mit den angrenzenden chinesischen Provinzen zu bereisen, im rechten Moment. Welche Probleme das mit sich bringen würde, wird Humboldt von Anfang an gesehen haben.

Die Untersuchungen zu den Gebirgsketten und zur vergleichenden Klimatologie Zen­tral­asiens bekommen so einen dauernd präsenten Bezug zur Macht. Wissen, das ist in „Zen­tral­-Asien“ auf jeder Seite gegenwärtig, wird auch über militärische Eroberungen befördert. So wie Marx in seinen Betrachtungen über Indien die Gewaltexzesse der Engländer gegen die Einheimischen im Dienst des Fortschritts sieht, sieht auch Humboldt den geplanten Feldzug des Zaren gegen den Khan von Khiwa: Die Erforschung dieser einstmals so blühenden Gegenden könne daraus nur „Gewinn ziehen“.

Man kann Humboldts stete Betonung der Kenntnisse der Einheimischen als Umkehrung seines Auftrags lesen, der entschieden imperial intendiert war und im Dienste der Kolonisierung stand

Im Zeichen des Fortschritts im Zuge des Kolonialismus steht auch ein anderer Dialog, den Humboldt führt. Es ist das Gespräch mit Charles Darwin. Darwin, der, als Humboldt „Zentral-Asien“ schreibt, sein Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten“ noch nicht veröffentlicht hat, wird bei Humboldt als Autor seiner großen Reisebeschreibung „Die Fahrt der Beagle“ zur Referenz. Die Frage, der Humboldt mit Darwin dabei nachgeht, ist, welche Folgen die Veränderung der Umgebung, etwa die Erhebung einer ganz neuen Gebirgskette, für das Klima und damit die Lebewesen mit sich bringt.

Jedes Ding, jede Sache existiert immer in einem Raum möglicher Sachverhalte, zu denen auch die Zeit zählt. Aber ohne Raum existiert nichts. Und an dieser Stelle kommt es zu einer der großen Wechselwirkungen in der Wissenschaftsgeschichte überhaupt. Darwins Wertschätzung Humboldts ist dabei für seine Theorie fundamental. Sie spricht aus vielen Passagen von Darwins Werk, etwa wenn er empfiehlt: „Studiere Spanisch, Französisch, Zeichnen und Humboldt.“

Entscheidend für die Evolu­tions­theo­rie war aber eine Beobachtung, die Darwin nie direkt in Bezug zu seinen Beobachtungen setzte. Humboldt hatte auf seiner Reise nach Amerika auf den Kanarischen Inseln auch Kanarienvögel beobachtet. Die sahen zwar alle ziemlich gleich aus, doch ihr Gesang unterschied sich von Insel zu Insel. „In allen Himmelrichtungen hat jeder Schwarm derselben Vogelart seine eigene Sprache“, schrieb er 1805 in seinem Reisebericht. Diese Beobachtung sei mit der, die Darwin auf den Galapagosinseln an den Finken machte, „so sehr struk­tur­iden­tisch, dass man sagen kann, auch Humboldt hatte seine Galapagos-Erfahrung“, schrieb hierzu der Wissenschaftshistoriker Wolfgang Lefèvre in seiner Studie „Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie“.

Humboldt-Zeichnung eines Helmhokkos aus der Ordnung der Hühnervögel Foto: Staats­bibliothek zu Berlin/bpk

Eine Einschätzung, die man nach der Lektüre von „Zentral-Asien“ auch umkehren kann: Darwin hatte offensichtlich mehrmals seine Humboldt-Erfahrung. Denn was Humboldt zum Artensterben und über die Anpassung von Tieren und Pflanzen durch Akklimatisierung 1843 anmerkte, hat Darwin alles erst sehr viel später geschrieben.

Der Raum, den Humboldt in Zentralasien schreibend durchmessen hat, öffnet sich so in buchstäblich alle Richtungen. Die Berge Südamerikas sind hier genauso anwesend wie der Dalai Lama und sein Konflikt mit China. Die Platingewinnung im Bergbau im Ural wird in direkten Zusammenhang mit der Abholzung der Wälder im Ural gebracht. Die weitflächigen Abholzungen kannte Humboldt aus den südamerikanischen Tropen. Gutheißen konnte er sie nicht, als Klimatologe wusste er um ihre Auswirkungen auf Wetter und Wind.

An den Ufern des Aralsees bemerkte er ein allmähliches Austrocknen, dessen Ursache er in den Bewässerungskanälen sah, die den See aussaugten. Das alles zusammen führte für Humboldt zu „ziemlich bedeutenden Veränderungen in der Beschaffenheit der Erdhülle (der Atmosphäre)“. Diese Veränderungen, so fügte er hinzu, seien ohne Zweifel wichtiger, als man gemeinhin annehme.

Wenn Humboldts Reisegesellschaft nicht zu Pferde unterwegs gewesen wäre, könnte man annehmen, er sei gerade erst zurückgekommen aus den Erdgasfördergebieten Eurasiens, an denen ja immer noch ein nicht unwesentlicher Teil der Existenz Mitteleuropas hängt. Humboldts Aktualität, so kann man schließen, lässt sich mit dem Versuch, sich einen Winter ohne russisches Erdgas vorzustellen, besser erfahren, als es der Besuch eines nach ihm benannten Forums je könnte.

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