: Gottes Selbstentmachtung
Keine dogmatischen Verhärtungen: Micha Brumlik sprach in Frankfurt über die jüdische Lehrtradition
Von Rudolf Walther
Monotheistische Religionen gelten als gewaltnah und Gewalt fördernd: von den mittelalterlichen Aufrufen zu den Kreuzzügen – „deus lo vult“, „Gott will es“ (1095) – über die Zwangstaufe von Juden in Spanien unter Berufung auf Augustinus beziehungsweise die Bibel – „compelle intrare, ut impleatur domus mea“, „zwinge sie hereinzukommen, damit mein Haus voll werde“ (Lk 14,23) – bis zur Aufforderung zum Heiligen Krieg.
Im Rahmen der Veranstaltung „Frankfurter Positionen“ des Instituts für Sozialforschung zum Thema „Demokratie und Wahrheit“ referierte am Mittwoch der emeritierte Erziehungswissenschaftler, taz-Autor und taz-Kolumnist Micha Brumlik über das Thema „Alle Welt sei Untertan der Obrigkeit – Wie demokratietauglich sind Religionen?“. Er sprang ein für den Ägyptologen Jan Assmann, der zeitweise die vergröbernde These vertrat, die monotheistischen Religionen bildeten den Ursprung von Gewalt. Die These wurde von Assmann selbst und anderen öfters relativiert. Monotheismus gilt seither nicht mehr als Ausbund der Intoleranz, sondern als „weltverändernde Innovation“ durch die Kraft der Ablehnung archaischer polytheistischer Religionen.
Brumlik zeigte, dass die Reduktion von Monotheismus auf Gewalt auf einer kategorialen Verwechslung von Religion mit Fundamentalismus beruht, das heißt auf der autoritativen Setzung eines „hegemonialen Prinzips“ gegenüber Staat, Gesellschaft und Kultur. Fundamentalismen aller Art verweigern sich der historisch-kritischen Kontextualisierung der heiligen Texte und sprechen diesen „summa potestas“ („höchste Macht“) zu, obwohl die Texte der historisch, gesellschaftlich und individuell geprägten Praxis entspringen, also Veränderungen unterliegen.
Der Begriff Fundamentalismus geht auf eine Schriftenreihe des evangelikalen Erweckungspredigers Reuben Archer Torrey (1856–1928) zurück, die ab 1910 unter dem Titel „The Fundamentals“ erschien und den Antiliberalismus von Sekten in den USA prägte. Fundamentalismen schreiben religiöse Überlieferungen dogmatisch fest und sind keine Wiederbelebung der Tradition, sondern historisch bedingte, politische Instrumentalisierungen von Welt- und Gottesbildern.
Für das Judentum belegte der US-amerikanische Philosoph Josiah Royce (1855–1916) Anfang des 20. Jahrhunderts eine Lehrtradition, die Brumlik als „rabbinischen Antifundamentalismus“ charakterisierte. Seit der Spätantike lehrte das rabbinische Judentum, dass nicht Gott selbst „die Auslegung seiner Weisungen steuert, sondern sie an die Gemeinschaft“ delegiert. Ausgeschlossen von dieser Interpretationsgemeinschaft blieben Nichtgelehrte und Frauen. Im Judentum gilt der Prophet Elias als Vermittler zwischen Gott, den heiligen Texten und den Gläubigen. Nach den Lehrbüchern folgen Gläubige nicht dem absoluten göttlichen Willen, sondern „der Mehrheit der männlichen Gelehrtenaristokratie“ von Theologen und Rabbinern.
Im Anschluss an Royce und Peter W. Ochs, Professor für „Moderne jüdische Studien“ in Virginia, zeigte Brumlik, wie sich die jüdische Lehrtradition flexibel an die Geschichte ihrer Auslegungen anpasste und so dogmatische Verhärtungen ebenso vermied wie die Orientierung an einem fixen autoritativen Vorbild. Es kam dabei, so Brumlik, zu einer regelrechten „Selbstentmachtung Gottes“, der seine Autorität mit der Interpretationsgemeinschaft teilt.
Die geoffenbarte Religion liegt „nicht im Himmel“, sondern im Wort, das Menschen in sich tragen und das sie zu einer „universalen Gemeinschaft der Hoffenden“ (Josiah Royce) verbindet. Offenbarung erfüllt sich nicht in sich, sondern im menschlichen Zusammenleben. Das heißt, die Texte bleiben offen für Interpretationen sowie Toleranz nach innen und gegenüber anderen Religionen und damit potenziell demokratiefähig im Unterschied zu Fundamentalismen.
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