: Oh, schöne Kunst der Verwirrung
Ende einer Parallelmontage: Die Bundestagswahlen unter dramaturgischen Gesichtspunkten betrachtet
Heute also: Urteil des Verfassungsgerichts. Bevor darüber endgültig Klarheit herrscht, muss man unbedingt noch einmal die schöne Verwirrung würdigen, die die Wirklichkeit in den vergangenen Wochen produzierte. Dramaturgisch betrachtet sah man sich mit einer avancierten Parallelmontage konfrontiert: Wahlkampf auf der einen Seite, die Entscheidungen, die den Weg zum Wahlkampf überhaupt erst frei machen, auf der anderen. Nun ist die Wirklichkeit bekanntlich eine ambitionierte Erzählerin, und dramaturgisch war das auch à la bonheur. Schade, dass es jetzt damit vorbei sein soll, auch wenn es an der Ausführung zuletzt haperte.
Parallele Handlungsstränge gehören zu den altehrwürdigen Kniffen der Erzählkunst. Schon die „Odyssee“ parallelisiert Odysseus’ Heimkehr nach Ithaka und die Suche seines Sohnes Telemach nach ihm. Die eigentlichen Abenteuer des Odysseus sind dann sogar noch in Form einer Rückblende eingeschaltet.
Seitdem wurde die Kunst der Parallelführung von Handlungssträngen immer weiter verfeinert. Viele Dramatiker nutzen die Möglichkeit, eine Parallelhandlung als retardierendes Moment in den Dramenablauf einzubauen, so etwas schiebt die Lösung des dramatischen Knotens hübsch spannungsfördernd hinaus. „Pate II“ erzählt die Vor- und die Nachgeschichte des ersten Teils parallel. Und ganz neu ist die Möglichkeit des Split-Screens, mit denen synchrone Handlungen tatsächlich nebeneinander geschaltet werden.
All diesen Bauformen des Erzählens zeigte sich die politische Wirklichkeit gewachsen – und sie hat sie sogar noch zu überbieten versucht! Schließlich standen nicht allein der Wahlkampf und die Vorgeschichte der Wahl nebeneinander (als wären „Star Wars“ IV bis VI und I bis III parallel erzählt worden). Vielmehr bestritten diese beiden Stränge jeweils auch noch das Existenzrecht des anderen: Wenn wir eine Wahl haben, kann nicht noch entschieden werden, ob wir eine Wahl haben, und umgekehrt. Vergangenheit und Gegenwart sind auf dieselbe Zeitebene geschoben. Im Grunde lassen sich sogar schon die Ergebnisse der Wahl studieren: Richtungsstreitigkeit innerhalb der Merkel-Regierung. Aber das lassen wir lieber außen vor. Es würde die Situation vollends verkomplizieren.
Es war vielleicht die Komplexität dieser Situation, die letztlich die Erzählerin Wirklichkeit überforderte. Den Handlungsstrang der Entscheidung vernachlässigte sie zuletzt nämlich, auch wenn sie sich heute mit noch so vielen Sondersendungen um ihn bemühen wird. Da hätte man mehr draus machen können. Gut ausgedacht also, aber eher schlampig ausgeführt – kommt bei avantgardistischen Erzählformen ja häufiger vor.
Dabei ist es, praktisch betrachtet, gar nicht so schwer, einander ausschließende Möglichkeiten in eine Lebenswelt zu integrieren. Der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz macht es gerade vor. Heute erwartet er das Ergebnis seiner Klage, gestern früh um 8.36 Uhr verteilte er beim Berliner U-Bahnhof Eberswalder Straße Wahlkampfmaterial. Sich wählen lassen wollen und die Wahl verhindern wollen, das geht also zusammen. Diese komplizierte Realität zu leben scheint einfacher zu sein, als von ihr zu erzählen. DIRK KNIPPHALS