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Wir sind nicht mehr in Kansas

„Der Zauberer von Oz“ ist der wichtigste Film aller Zeiten, behauptet eine neue wissenschaftliche Studie. Bezaubernde Inszenierungen sind derzeit an der Urania und der Komischen Oper zu sehen

Von Doris Akrap

Die Urania ist ein Ort, an dem ich nicht mehr war, seit dort das „Schwarzbuch des Kommunismus“ vom damaligen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, vorgestellt wurde. Das war 1998. Über das „Schwarzbuch des Kommunismus“ spricht heut keiner mehr. Über den „Zauberer von Oz“, der derzeit auf der Bühne der Urania und zugleich in einer anderen Inszenierung an der Komischen Oper gezeigt wird, sehr wohl. Und das, obwohl der Zauberer von Oz fast genauso alt wie der Kommunismus ist: Die berühmte Musical-Verfilmung mit der 16-jährigen Judy Garland in ihrer ersten Rolle stammt aus dem Jahre 1939, Lyman Frank Baums Roman gleichnamigen Titels bereits aus dem Jahr 1900.

„Der Zauberer von Oz“ ist die Geschichte der kleinen Dorothy Gayle, die in Kansas bei ihren Großeltern auf dem Land lebt und sich in ein anderes Land, „irgendwo hinter dem Regenbogen“, wünscht. Denn es ist trist und öd zu Hause. Zusammen mit ihrem Hund Toto wird sie eines Tages von einem Tornado ins Land Oz gewirbelt und findet dort drei neue Freunde, einen Blechmann, eine Vogelscheuche und einen Löwen, die sie auf ihrem Weg durch das knallbunte Land Oz zum Zauberer begleiten, der in der „Smaragdstadt“ lebt. Nur dieser Zauberer soll Dorothy dabei helfen können, wieder nach Hause, nach Kansas zu kommen. So jedenfalls sagt es ihr eine gute Hexe, auf die sie gleich am Anfang ihrer Reise trifft.

Dass das von Dorothy alias Judy Garland gesungene „Somewhere over the rainbow“ mittlerweile zum Klassiker und zu einem der am meisten gecoverten Filmsongs aller Zeiten avancierte, ist das eine. Seit Ende November aber wissen wir, dass der von Metro-Goldwyn-Mayer produzierte „Zauberer von Oz“ der wichtigste Film aller Zeiten ist. Das Journal Applied Network Science veröffentlichte in seiner aktuellen Ausgabe eine Studie der Universität Turin, wo eine Gruppe Computerwissenschaftler per Algorithmus zu diesem Ergebnis kam.

Die Forscher sind der Meinung, dass weder Oscars, die Zahl der Auszeichnungen noch der finanzielle Erfolg etwas über den kulturellen Einfluss von Filmen aussagen. Als Grundlage zur Bewertung des kulturellen Einflusses eines Films nahm das Team von Livio Boglio die Querverweise zwischen Filmen zum Maßstab ihrer Beurteilung. Alle 47.000 in der International Movie Database (IMDb) gelisteten Filme wurden von diversen Algorithmen durchleuchtet und die Verbindungen von Remakes, Fortsetzungen, Serien, Computerspielen, Zitaten, Anspielungen, Parodien, Musikkopien etc. bemessen. Der „Zauberer von Oz“ liegt in der Studie eindeutig vor „Star Wars“ und „Psycho“.

Allein mit den Anekdoten rund um die Rezeption des Films könnte man ein sehr dickes Buch füllen. So ist er beispielsweise einer von nur vier Spielfilmen, die zum Weltdokumentenerbe der Unesco zählen. So ist Judy Garland zur Ikone der Homosexuellen geworden. Ihr Spruch „Wir sind nicht mehr in Kansas“ wurde zu einer beliebten Redewendung in den USA, mit dem die moderne Welt begrüßt wurde. Als „friends of Dorothy“ wurden bereits während des Zweiten Weltkriegs Homosexuelle bezeichnet, was sich vor allem auf die drei Wegbegleiter Dorothys bezieht, die allesamt Männer sind, denen was fehlt: der Vogelscheuche das Gehirn, dem Blechmann das Herz und dem Löwen der Mut.

„Der Zauberer von Oz“ ist einer der ersten Technicolorfilme, dessen Farbintensität derart irre ist, dass man schon als kindlicher Zuschauer merkt, dass hier was nicht stimmt. Es ist aber nicht so, dass die Technik damals noch nicht so weit in Sachen Finetuning war und deswegen die Farben extrem knallig geraten wären. Es ist Absicht. Denn das Land Oz ist ein Land, in das sich Dorothy mit ihrem Hund Toto hineinträumt.

In der Inszenierung des Regisseurs Volkmar Neumann an der Urania sind die Farben allerdings bei Weitem nicht so grell wie in der ungleich aufwändigeren Produktion des Stoffs an der Komischen Oper. Neumann, mit 83 sogar älter als der Film, war über 20 Jahre Leiter des Friedrichstadtpalasts. Er will mit seinem Ensemble des Berliner Kindermusicaltheaters an der Urania Kinder in die Welt des Theaterspielens einführen.

Die 50 sehr kleinen und etwas größeren Kinder leisten tatsächlich Außerordentliches auf der Bühne. Insbesondere der Darstellerin der Vogelscheuche, die über zwei Stunden kopfwackelnd und mit weichen Strohknien über die Bühne turnt, gelingt eine grandiose Darbietung. Aber auch die beiden Kobolde, die durch die Geschichte führen, und einige der kleinen Zwerge spielen derart intensiv, dass man dieser Bühnenadaption die eine oder andere Vereinfachung verzeiht.

So ist zum Beispiel die böse Hexe, die im Film mit ihrem grünen, länglichen Gesicht und der fiesen Hexenstimme unvergesslich ist, in der Urania eine wesentlich harmlosere Variante. Auch die Rolle des Zauberers ist eine gänzlich andere. Der Zauberer von Oz entpuppt sich im Original von Buch und Film als fauler Zauber, als Hochstapler. Es ist ein kleines Männlein, das nur so tut, als sei es ein furchteinflößender Herrscher. In Wahrheit hat er keine übermächtigen Kräfte. Seine Macht beruht allein auf der Imagination seines Volkes. In der Urania hingegen ist der Zauberer zwar auch kein Zauberer, aber er ist von Anfang an ein guter Junge, der hilft, wo er kann, und in den sich die Mädchen und Hexen verlieben.

Während die Kinder gebannt auf die Bühne gucken, hat man als etwas Erwachsener noch größeren Spaß, wenn man sich in die Nähe der Regie setzt. Dann nämlich kann man den 83-jährigen Regisseur hören, wie er hin und wieder in ein Sandwich beißt, daran kaut und Anweisungen gibt: „Vorhang. Vorhang, hab ich gesagt. „Mikro. Mikro, Mensch. Nur, weil der wieder kein Headset wollte.“

Der Zauberer entpuppt sich als kleines Männlein, das nur so tut, als sei esein furchteinflößender Herrscher

Während die neu komponierten und getexteten Lieder in der Urania vom Band kommen, spielt in der Adaption des Italieners Pierangelo Valtinoni an der Komischen Oper das Orchester live. Die Sänger sind allesamt Tenöre, Bassisten und Sopranistinnen des Ensembles. Valtinonis Inszenierung ist eine umwerfende Mischung aus projizierten Bildern, Bühnenbauten und Effekten. Zudem hält sich die Farbgebung minutiös an die Filmvorlage. Die Anfangs- und die Schlusssequenz, die in Kansas spielen, ist in Schwarz-Weiß gehalten, während der ganze Part im Land des Zauberers in grüne und rote Grelltöne getaucht ist.

Allerdings tragen sowohl die Dorothy in der Urania als auch die Dorothy in der Komischen Oper silberne und nicht rote Glitzerschuhe. Silbern sind die Zauberschuhe aber nur in der Romanvorlage. Die roten Schuhe aus dem Film hingegen sind so berühmt geworden, dass sie bei einer Versteigerung im Mai 2000 für 666.000 Dollar verkauft wurden.

Das wunderschöne Lied „Somewhere over the rainbow“ wird in beiden Inszenierungen nicht gesungen. Nur als Klingelton am Eingang zur Smaragdstadt kommt es in einer kurzen Andeutung in der Inszenierung an der Komischen Oper vor.

Interpretiert wurde „Der Zauberer von Oz“ gern als Verarbeitung der großen Wirtschaftskrise der 30er Jahre, die Vogelscheuche und der Blechmann wurden als Vertreter der Bauern und Arbeiter gesehen. So gesehen wäre mal eine riskantere, zeitgenössische Adaption interessant, die Dorothy und ihre drei Freunde als Trump-Anhänger zeigen würde. So aber bleiben beide Inszenierungen fürs Erste nah an der Geschichte, deren Pointe ist, dass wir immer hinter den Zauber gucken und uns selbst ermächtigen müssen: Dann wird schon alles gut, bekommen wir Herz, Verstand und Mut und finden den Weg nach Hause zurück. Wo immer das auch sein mag.

Aufführungen in der Urania fast täglich bis 28. Dezember, an der Komischen Oper am 19., 23. und 26. Dezember sowie am 14. Januar

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