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Warm, satt, trocken – wenigstens das

Zwölf Tage und Nächte auf Skiern mit Kochgeschirr und Zelt bei minus 25 Grad durch das norwegische und schwedische Lappland – wo Luxus bedeutet, zwei Liter heißen Tee am Tag zu haben. Die Belohnung dafür sind grandiose Landschaften, beinhartes Wetter und mystische Polarlichter

Von Björn Marzahn

In Katterat, einer winzigen Bahnstation in Lappland, 150 Kilometer nördlich des Polarkreises, steigen wir aus dem Zug, stellen uns auf die Skier, haken die Pulkas hinter uns fest, die ursprünglich von den Samen entwickelten Gepäckschlitten, und ziehen los. Zwölf Tage lang. Mit Kochgeschirr, Proviant und Zelt. Es ist März. Es ist frisch. Sehr frisch. Dicht und dick fällt der Schnee. Schummrig-grau das wenige Licht. Viel Sicht ist nicht. Die Skier versinken tief im ungespurten Schnee, die 40 Kilo schweren Schlitten kleben bergan fest am Boden. Mag es weit unter zehn Grad sein, das Ziehen wärmt.

Wir, das sind Uta, Susanne, Holger und ich. Holger ist Anfang 60, Arzt in Hoyerswerda. Susanne aus Berlin ist Mitte 30, bei einer Krankenversicherung beschäftigt. Uta kommt aus Duisburg, ist Anfang 40, öffentliche Angestellte, ich selbst – aus Hamburg, etwas über 50 – ebenfalls. Niemand von uns macht eine solche Tour zum ersten Mal. Wir haben schon Skitouren gemacht im Sarek-Nationalpark, einer der wildesten Ecken des schwedischen Lapplands, und in der norwegischen Hardangervidda, der größten Hochgebirgsebene Europas. Doch diesmal ziehen wir ohne professionellen Guide los, ganz auf uns allein gestellt. Und das ist neu.

Entschieden hatten wir uns ursprünglich für den schwedischen Kungsleden, den berühmten Königsweg. Und es dann doch gelassen. Zu Hütten-tourig, fanden wir. Zu frequentiert. Zu ausgeschildert. Zu viele Motorschlitten. Und dann noch kurz vor Ostern. Wir vermuteten ganz Skandinavien auf den Brettern. Stattdessen sind wir mit der Bahn von Kiruna aus an Abisko – wo der Kungsleden eigentlich beginnt – vorbeigefahren, zwei Stunden weiter nach Westen Richtung Narvik über die Grenze nach Norwegen.

Von dort nun ziehen wir südlich durch das Hunddalselva-Tal von Meereshöhe bis auf 1.400 bis 1.600 Höhenmeter. Wir passieren dick vereiste Seen, übersteigen Pässe und kreuzen tiefe, vollkommen stille Täler unserem Ziel entgegen: Nikkaluokta. 180 Kilometer. Eine Traum-Strecke.

Alltag heißt jetzt, mit der Kälte leben zu lernen

Es ist bereits Nachmittag. In 40 Minuten wird es dunkel, bis dahin muss ein Lager gefunden sein. Groß genug für vier Zelte, das ist in dieser riesigen Landschaft nicht das Problem. Nur eben muss die Fläche sein. Nichts ist grausamer, als nachts Stück für Stück aus dem schiefen Zelt zu rutschen.

Eine solche Wintertour führt den Reisenden zurück in die frühkindliche Bedürfniswelt. Es geht nur um drei Dinge: sich warmzuhalten, satt zu sein und trocken zu bleiben. Warm. Satt. Trocken. Wenigstens das. Dieser Dreiklang ist das Mantra auf den schneeigen Kilometern, alles andere kann man getrost ausblenden. Und das ist eines der wesentlichen Motive, warum wir uns überhaupt zu solch einer Reise aufgemacht haben.

Alltag heißt jetzt, mit der Kälte leben zu lernen. Luxus bedeutet nun, zwei Liter heißen Tee am Tag. Zivilisiert sein meint, den Schlitten und sich selbst heil ins Ziel zu ziehen. Die Belohnung ist das geleistete Tagespensum, ist die Erfülltheit, geschöpft aus intensiven, einzigartigen Eindrücken aus einsamer, grandioser Landschaft, beinhartem Wetter in jeder Form und Schlittenziehen und Rhythmus. Näher kann man der Natur kaum kommen. Die Nächte sind traumlos.

Zum Beispiel das mit der Toilette ist etwas, was man sehr schnell lernt zu akzeptieren. Unter normalen Bedingungen dauert die Sache nur sehr kurz. Probleme mit der Verdauung wären hier eine Katastrophe. Man kann den Hintern bei minus 25 Grad schließlich nur sehr kurz in den Wind halten. Wenn es noch hell genug ist und irgendwer Lust hat, bauen wir daher aus Schneeblöcken 20, 30 Meter vom Lager eine Art Mauer, um ein wenig Windschutz zu haben.

Demütig lernen wir, die Stürze zu akzeptieren

Stündlich machen wir ein paar Minuten Pause. In kürzester Zeit attackiert uns die Kälte ernsthaft. Die meisten Pausensnacks können im Grunde nur gelutscht werden. Alles ist voller Schneekristalle. Die Reise im Schnee beginnt, einem festen Muster zu folgen.

Aufwärts greifen die Felle unter den Skiern wegen des schweren Schlittens nicht. Also seitlich in Serpentinen am Berg hoch. Elende Momente, wenn der Schlitten zum x-ten Mal seitlich wegrutscht. Zunächst nur ein zarter Ruck im Gestänge, dann aber reißt einen der Schlitten erbarmungslos mit sich den Hang herunter. Unmöglich, die Skier umzusetzen. Aussichtslos, die Stöcke in den Schnee zu hacken, erfolglos der Versuch, wenigstens das Gleichgewicht zu halten. Demütig lernen wir, die Stürze zu akzeptieren und versuchen, nicht mehr kopfüber zu fallen.

Am Nachmittag, nach acht, neun Stunden, bauen wir das Lager auf. Die Rücken der Schlafzelte direkt in den Wind gerichtet. Um die Zelte schaufeln wir hoch den Schnee, damit der Sturm nicht darunter fahren kann.

Touren mit Führer

Hüttentouren gibt es zuhauf. Aber geführte Zelt-Pulka-Reisen zu finden, ist nicht leicht. Mit den zwei Anbietern, die es in Deutschland gibt, haben wir ausgezeichnete Erfahrungen gemacht.

Die Lebensmittel, die Stefan Koch von der Wildnisschule Allgäuer für die Gruppe mitbringt, sind unschlagbar: Gesund, bio, lecker, alles selbst getrocknet und produziert. Stefan bietet nicht jedes Jahr eine Tour an. Seine Homepage: www.wildnisschule-allgaeu.de; Im Bachtel 14, 87561 Tiefenbach bei Oberstdorf

Die Philosophie von Jerome Blösser (Puretreks) zielt ebenso auf „Reisen in Einklang mit Natur und Mensch“. Zu Beginn seiner Reisen werden die Fertig-Trocken-Gerichte verteilt, eine Tüte pro Tag, mit oder ohne Fleisch. Auch sonst könnten beide nicht unterschiedlicher sein.

https://puretreks.de; Freiligrathwall 33, 59494 Soest, ☎02921/373737

Im roten Kochzelt graben wir ein tiefes U in den Schnee, eine Art Sitz-Theke. Dort sitzen wir auf Isomatten, Kocher und Thermoskannen stehen auf dem „Schnee-Tisch“ in der Mitte. Den Zelteingang richten wir nach Norden aus, der Polarlichter wegen. Sie sind glanzvolle Höhepunkte der Reise. Milchig-weiß schweben, rasen, schleiern die mystischen Lichtvorhänge über das Firmament. Wie Deckenscheinwerfer beleuchten die Sterne den Zauber. Man schaut direkt in den Weltraum hinein. Ein Schauspiel. Wäre es nicht so erbärmlich kalt. Wir messen weit unter 25 Grad minus.

Der französische Arzt Jean-Louis Etienne, der in den 1980er- Jahren allein zum Nordpol marschiert war, schrieb, er habe sich nach den Etappen mit „Langusten und Spinat“ oder „Kabeljau in Fenchel“ belohnt. So geht’s, dachte ich, und hatte weitgehend auf Fertig-Trocken-Gerichte verzichtet und auf Mais- und Erbsendosen, Kartoffelpüree, Zwiebeln, Butter und Würstchen gesetzt. Ein Fehler.

Die Butter lässt sich nur mit grobem Werkzeug zertrümmern. Das Schmalz hiebe ich mit dem Zelthering aus der Verankerung. Weil die Öffnungslaschen vom Dosendeckel wegen der Kälte wie Glas abfallen, bebrüte ich die Dose den ganzen Tag direkt am Bauch. Wie auch die Würstchen, die Gesichtscreme, die Zahnpasta, die Batterien, die Reinigungstücher, das Handy, das GPS-Gerät und die Socken für die Nacht. Eine Nacht lassen wir unsere Zahnpasten im Zelt offen liegen, um zu sehen, welche noch gebrauchsfähig sein würde. Die blaue Colgate hat gewonnen. Was auch nicht gefriert, ist die Krabben-Creme von Abba.

Am Abend ist es sinnvoll, die Füße im Schnee zu reinigen, dick mit Vaseline einzucremen und für die Nacht die dicken Strümpfe überzuziehen. Die nassen dünnen Laufsocken kommen mit in den Schlafsack, bestenfalls direkt an den Körper. Das ist nicht jedermanns Sache und wird mit täglichem Gebrauch nicht erfreulicher. Aber nachts vereist alles außerhalb des Daunenschlafsacks – und niemand will morgens Socken auseinanderbrechen müssen.

Am Morgen: Kleidung, steif wie eine Ritterrüstung

Gegen 20 Uhr ist man drinnen; ein relativer Begriff, denn es schneit im Zelt. Durch den gefrorenen Atem an der Zeltwand, die ständig vom Sturm gebeutelt wird, fallen Schneekristalle auf den Schlafsack und vor allem durch das kleine Loch, das man sich zum Atmen erhalten hat. Aber wer schläft schon um diese Uhrzeit? Und wenn, dann ist man garantiert um drei Uhr wieder wach – und das ist kein Vergnügen, bis um sieben, wenn es hell wird, im Schlafsack wach und warm zu bleiben. Aber wegen der Atemwolke im Schein der Stirnlampe lässt sich nur beim Einatmen lesen. Für ganze Sätze braucht es einen langen Atem.

Und dann der Harndrang. Sich nachts aus dem Schlafsack zu falten, zu versuchen, die Wärme für drei Minuten beizubehalten, die Stiefel aus dem Eis zu meißeln, neben das Zelt zu treten und blockstarr wieder zurückzurobben – darauf liegt kein Segen. Sofort wird es entsetzlich kalt. Nicht einfach kalt, sondern kaltkalt. Der Erfahrungswert ist so enorm, dass sich schon ab der zweiten Nacht in der Gruppe beobachten lässt, dass behutsam nur noch eine Tasse Tee getrunken wird.

Morgens ist die Kleidung steif wie eine Ritterrüstung, sind die Stiefel so hart wie Ofenrohre. Noch vor dem Aufstehen beginne ich, sie weich zu kneten, um überhaupt hineinzukommen. Die Erinnerung an die ersten Schritte lässt mich noch heute aus dem Schlaf schrecken. Jeder Morgen ist geprägt vom Eifer, wieder in Gang zu kommen, weiter die unglaublich schöne Landschaft zu durchschreiten. Still. Klein. Allein mit sich oder der Gruppe, gar nicht tief in Gedanken verstrickt, weil es sie hier gar nicht braucht. Die Karte zu lesen, die Orientierung zu bewahren, in die richtigen Täler einzusteigen, sich beim Kocher befüllen nicht mit Benzin vollgießen: Darum geht es.

So schaben und kratzen und stürzen wir langsam dem Ziel entgegen. Richtig glücklich ist niemand von uns, als wir in Nikkaluokta zurück in der Zivilisation eintreffen und sich in Minutenschnelle die alten urbanen Denkmuster melden. Es ist wie ein Erwachen aus tiefem Traum, allerdings in warmer Umgebung. Aber stolz sind wir, die Herausforderung angenommen, der Lebensfeindlichkeit getrotzt zu haben und für eine Weile als kleine harmonische Gruppe mit etwas verbunden gewesen zu sein, das sich Kosmos nennt.

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