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Die vegane Manege

Tutu, Pailletten, Applaus und ein bisschen Gefahr. Und salziges Popcorn. Der Roncalli Weihnachtszirkus gastiert im Tempodrom. Doch man wird auch ohne wilde Tiere bestens unterhalten – ein großes Manko gibt es dennoch

Wie erzeugt man Nostalgie? Patrick Philadelphia, der Betriebsleiter bei Roncalli Foto: André Wunstorf

Von Henriette Harris

Zirkus war nie so mein Ding. Zuletzt war ich im Zirkus, als meine Tochter drei Jahre alt war. Es war ein Zirkus, der jeden Sommer sein Zelt auf einer unbebauten Wiese in Prenzlauer Berg (die gab es mal) aufgeschlagen hat. In der Pause durften die Kinder die Tiere streicheln. Franca hat eine riesige gelb-weiße Schlange gestreichelt. Die Schlange schlief. Dachte ich. Plötzlich hat sie ihren Kopf gehoben und sich zu meiner Tochter gedreht. Blitzschnell habe ich das Kind geschnappt, bin aus dem Zelt gerannt und nie wieder zurückgekehrt.

Jetzt sitze ich mit meiner jüngsten Tochter, die 13 Jahre alt ist, im Tempodrom. 2.780 Leute haben den Weg in den Roncalli Weihnachtszirkus gefunden, und ich finde es beruhigend, dass es keine Tiere mehr gibt. Schon seit den neunziger Jahren keine wilden Tiere – und ab ­diesem Jahr überhaupt keine mehr.

Ein paar Tage vorher stand ich in der Manege und habe mit dem Betriebsleiter und Regisseur geredet. Der Mann heißt Patrick Philadelphia. So ein Name lässt sich erklären, wenn man weiß, dass der Mann einen Vorfahren hat, der Magier am Hofe war und von Friedrich Schiller erwähnt wurde. Dazu hat Philadelphias Urgroßvater mit Seelöwen gearbeitet, sein Vater mit Pferden. „Wir waren immer im Showbusiness“, sagt Philadelphia. Selber wollte er nicht Artist werden, aber er arbeitet seit 23 Jahren hinter den Kulissen von Roncalli.

Also betreibt er jetzt quasi einen veganen Zirkus? Warum? „Die Zeiten ändern sich. Es war immer schwierig, die Tiere unterzubringen. Wir standen zum Beispiel auf dem Rathausplatz in Wien und hatten keine Argumente mehr. 95 Prozent unseres Publikums finden es gut so, sie sagen, dass ihnen nichts fehlt“, sagt Philadelphia.

Ein Techniker hat ein Problem. Er kommt kurz vorbei – zwei Worte des Betriebsleiters, und das Problem scheint gelöst. Philadelphias 12-jähriger Sohn Justin ist der jüngste Artist in der Manege; seine Frau, die auch Artistin war, arbeitet im Merchandising, und seine 22-jährige Tochter ist als Artistin in der Welt unterwegs.

Aber die Tiere, sogar die Pferde sind weg, die Artisten wohnen nicht mehr im Zirkuswagen, sondern im Hotel. Kommen denn gar keine nostalgischen Gefühle auf, auch bei den Besuchern? „Nostalgie kann man nicht einfach so erzeugen. Aber wir haben die zwei alten Wagen vor dem Eingang, es gibt die Logen und die Lampen. Und irgendetwas machen wir richtig, weil die meisten unserer Besucher Wiederholungstäter sind. Sie bestellen schon jetzt die Karten für nächstes Jahr“, sagt Philadelphia.

Wir sind also gespannt, als wir uns zu den Tönen von John Lennons „And So This Is Christmas“ setzen. Das Lied erschien zwei Wochen vor meiner Geburt, ich werde schon jetzt nostalgisch. Die Laune ist gut, es gibt salziges Popcorn. Wir Dänen wissen das zu schätzen, weil es das hier so selten gibt. „Ich bin gespannt, ob die Clowns lustig sind“, sagt Rebekka, meine Tochter, die Clowns normalerweise furchterregend findet. Den Clown Chistirrin aus Mexiko aber findet sie gut. Er hat nicht nur Humor und ist musikalisch; nein, er kann auch Sprünge machen und jonglieren. Und ihm gelingt es, die Trapeznummer von The Flying Jalapeños komplett zu übernehmen.

Die acht Musiker, die wie immer im Zirkus über dem Eingang zur Manege sitzen, sind richtig gut und geben Gas, als sie die fünf Jambo Brothers und ihre Seilspringnummer mit einem Blues-Brothers-Potpourri begleiten. Auch The Cedeño Brothers sind mit ihrer Akrobatik – für die sie zwei Stühle und vier menschliche Beine brauchen – überzeugend. Oder wie Rebekka sagt: „Das hier war das Verrückteste!“ Viel wirkt bei dieser Vorstellung wirklich neu und wird mit Poesie und Pointen ausgeführt. Twin Spin, zwei sehr geschickte Berliner Jungs, machen das Jonglieren dank eines Diabolospiels spannend, und als Haitao Kong langsam einen Turm aus Stühlen baut, um ganz oben auf einer Hand zu balancieren, haben wir beide nasse Handflächen. Als er sich – vielleicht in einer Höhe von sieben bis acht Metern – mit einem Haken sichert, muss ich aus Erleichterung klatschen.

Alles schön und gut – aber einen wirklich Mangel gibt es. Einen Mangel an Frauen. Wenn man eine Teenagertochter hat, die nach Vorbildern schaut, und diese Tochter neben einem sitzt, ist das keine Kleinigkeit. Warum gibt es so wenige Frauen? Oder warum gibt es nur Frauen als Staffage?

Gut, zwei Musikerinnen, also weiblich, sind dabei. Und es gibt eine Sängerin, die aber erst in der zweiten Hälfte dazukommt. Dann wäre da noch die außerirdische Trapezkünstlerin Sylvia vom Duo Rose, die mit ihrem Partner Samuel uns für einige Minuten vergessen lässt, dass es Grenzen von Kraft und Geschmeidigkeit im menschlichen Körper gibt. Aber das war es dann auch schon.

Denn die sechs jungen Frauen, die wie Pin-up-Girls zwischen den Nummern auftauchen, kann man nun wirklich nicht mitzählen. Sie springen ein bisschen rum, richtig gut tanzen können sie nicht, lustig sind sie auch nicht, aber sie sehen gut aus. Einmal sind sie wie Süßigkeiten verkleidet (Frauen als Süßigkeiten, come on!) und stolzieren herum zu Rudolf, dem Rentier. Ein anderes Mal haben sie einen schwarzweißen, hautengen Anzug an, davon aber nur die Hälfte. Das eine Bein ist nackt, sogar die Pobacke ist frei.

Die Tiere, sogar die Pferde sind weg. Und die Artisten wohnen im Hotel

Ich will nicht prüde sein, aber leider hat man das Gefühl, dass sie nur da sind, damit die gelangweilten Familienväter, die sonst nie zu kulturellen Veranstaltungen mitgehen, zufriedengestellt und aufgegeilt werden.

Ich weiß, dass leicht angezogene Menschen zum Zirkus gehören und dazu auch Frauen in Federn und glitzernden Steinen. Ich rede auch nicht von Gleichberechtigung, weil ich weiß, dass einige von den Nummern artistisch vielleicht nur von Männern ausgeführt werden können. Aber ein paar reine Frauennummern wären toll gewesen, dann hätte man glauben können, dass Roncalli an allen Fronten – und nicht nur was die Tiere anbetrifft – in der modernen Zeit ankommen will.

Zirkus war nie so mein Ding – das ist nicht die ganze Wahrheit. Als ganz kleines Mädchen hatte ich zwei Berufswünsche: Seiltänzerin oder Müllmann. Warum Seiltänzerin? Na ja, Tutu, Pailletten, Applaus und ein bisschen Gefahr. Müllmann, weil ich es so cool fand, wie die Männer immer hinten auf dem Müllwagen standen, wenn er fuhr.

Später habe ich eine ziemliche Höhenangst entwickelt. Und es ist anstrengend genug, mein eigenes Chaos in Ordnung zu bringen. Nach knappen drei Stunden im Roncalli Weihnachtszirkus fühle ich mich berührt und beeindruckt vom vielseitigen menschlichen Können und Willen und den unzähligen Trainingsstunden, die dahinter liegen.

Aber nächstes Jahr bitte mehr Frauen! Dankeschön.

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