Den Kühen die Hörner

Hilfe, die Referenden kommen. Die Schweiz blieb sich treu und stimmte in der jüngsten Abstimmungsorgie einmal international, einmal schweiz-national und einmal tierisch überfraktional

Auch ein Schweizermacher: Armin Capaul, der die sogenannte Hornkuh-Initiative einbrachte Foto: Denise Balibouse/reuters

Von Rudolf Walther

Schweizerinnen und Schweizer sind stolz auf ihre direkte Demokratie. Ihr politisches System lässt Volksabstimmungen zu, die verfassungsändernden Charakter haben, Volksinitiativen, die mit Referenden gegen Beschlüsse von Parlamenten und Regierungen auf allen politischen Ebenen angehen können. Ende November stimmten die Schweizer zuletzt gleich über dreierlei ab. Sie demonstrierten dabei, dass die direkte Demokratie als Notbremse, aber auch als Beschleuniger von Ressentiments fungieren kann. Die Stimmbürger bereiteten dem reaktionären Berufsschweizertum der SVP eine krachende Niederlage. Und verschafften zugleich dem selbstgerecht-vernagelten Schweizer Chauvinismus in seiner spießigen Biederkeit (helvetisch: „Bünzlihaftigkeit“) in einem anderen Referendum eine Mehrheit. Und der verbesserte Tierschutz scheiterte knapp.

Schnüffeln auf Helvetisch

So lehnten die Schweizer Bürgerinnen und Bürger mit Zweidrittelmehrheit die vom Zürcher SVP-Professor Hans-Ueli Vogt formulierte „Selbstbestimmungsinitiative“ ab. Nach dieser hätte sich die Schweiz aus dem Menschen- und Völkerrecht selbstzufrieden zurückziehen und in die „Swissness first“-Loge verabschieden sollen. Das Ergebnis nährte Hoffnung auf eine Ende des SVP-Chauvinismus. Aber durch eine zweite Initiative, die gleichentags eine Mehrheit fand, wurde diese Hoffnung sofort wieder zerstört: Die Vorlage, die es Sozialversicherungen erlaubt, Versicherte beziehungsweise Leistungsbezieher heimlich durch „Sozialdetektive“ zu überwachen (also mehr und anderes als selbstverständliche Kontrollen!), fand fast eine Zweidrittelmehrheit. Das macht die satirisch-sympathisch porträtierte Hauptfigur in dem nach 1945 erfolgreichsten Schweizer Film, „Die Schweizermacher“ von Rolf Lissy, nachträglich zum Büttel des Spießertums.

In dem legendären Streifen gerät der amtliche Inspekteur der Schweiztauglichkeit von einbürgerungswilligen Ausländern aus dem nationalen Gleichschritt, weil er sich in eine Ausländerin verliebt, die die Bräuche des Schweizertums ignoriert und deshalb als „schweizuntauglich“ gilt. Die mit der Abstimmung nun sichtbar gewordene Mehrheit für die heimliche Überwachung von Sozialleistungsempfängern widerruft die von dem grandiosen Kunstwerk einst erzeugte Hoffnung, die eingebildete Exklusivität des Schweizertums könnte doch noch an humanem Verhalten zerschellen.

Die dritte Abstimmung belegt hingegen die Virulenz von so etwas wie der spezifisch Schweizer Widerständigkeit. Ein Bauer wollte anderen Bauern einen Zuschuss verschaffen, falls sie – wie er – ihren Kühen die Hörner nicht wegsägten. Der Initiant der Volksbefragung, Paul Capaul, gewann für den Tierschutz fast eine Mehrheit und 10 Prozent mehr Stimmen als die reaktionäre SVP für ihre „Selbstbestimmungsinitiative“: 45,3 Prozent der Schweizer stimmten dafür, Kühen ihre Hörner zu lassen. Tierschutz.

Wenn es um den Schutz von Menschen geht, tickt die Schweiz eher unterirdisch beziehungsweise außerirdisch. Und damit kommt die Milizarmee ins Spiel, das Lieblingsspielzeug von Berufsschweizern und Swissness-Politikern. Die bekamen einen nachhaltigen Schock verpasst, als sich bei der Abstimmung über die Initiative der „Gruppe für eine Schweiz ohne Armee“ am 1989 immerhin 35,6 Prozent der Abstimmenden für die Abschaffung der Armee entschieden – rund eine Million der Bürger und Bürgerinnen des Landes. Für die Erhaltung der Armee stimmten 1,9 Millionen Menschen. Dass sich über ein Drittel der Schweizer gegen ihre Armee entschieden, obwohl die Regierung mit dem Slogan, „Die Schweiz hat keine Armee, die Schweiz ist eine Armee“ in den Abstimmungskampf zog, war eine Sensation. In der französischsprachigen Schweiz gab es in zwei Kantonen sogar eine Mehrheit für die Abschaffung des Militärs, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem unterirdisch profilierte (Bunker, Stollen, Bergbau). Im Kampf gegen Fremde und Kommunisten war die Schweiz zeitweise Weltmeister. Die Armee verfügte über 250 Kilometer unterirdische Bunkeranlagen. Das Plansoll für zivile Schutzräume für den Ernstfall erfüllte der Staat dank großzügiger Subventionen für Bauherren und zum Wohlgefallen der Zement- und Betonverkäufer zu 115 Prozent. Die Schweiz bot also unterirdisch 15 Prozent mehr Menschen Platz, als es überhaupt Einwohner gab.

Oberirdisch agierten Regierung und Armee historisch betrachtet weniger generös. Flüchtlinge, zumal Juden, wurden zwischen 1939 und 1945 durch ein rigides Grenzregime zurückgewiesen („Das Boot ist voll“). Man könnte den Regierungsslogan zeitgemäß umformulieren: „Die Schweiz hat keine Bunker, sie ist ein Bunker für Einheimische – und für Geld aus dem Rest der Welt.“ Als es darauf ankam, setzten sich nur sehr wenige Amtsträger, wie der Polizeihauptmann Paul Grüninger aus St. Gallen, über menschenfeindliche und selbstgerecht-nationalistische Vorschriften hinweg und ermöglichten jüdischen Flüchtlingen illegal die Einreise. Sie wurden für ihre Courage hart bestraft.

Im Zeichen des Kalten Krieges nach 1945 gedieh im Schweizer Offizierskorps eine rabiate Bunkermentalität. Ende der sechziger Jahre baute ein Oberst im Auftrag des Generalstabs einen „Spezialdienst“ auf, der 1979 zur illegalen „Geheimarmee“ mutierte. Der Organisation unter dem Namen „P 26“ gehörten etwa 400 geeichte Radikalpatrioten an. Sie verfügten über einen Übungsbunker in der Nähe von Gstaad sowie Waffen- und Munitionslager.

Die Superpatrioten planten keinen Militärputsch, sondern eine Sabotagetruppe für den Fall, dass das Land von der Roten Armee besetzt würde. Wie sich in den achtziger Jahren herausstellte, operierten die fanatisierten Antikommunisten unter stiller Duldung durch die Landesregierung und außerhalb der Kontrolle des Parlaments. Unlängst hat ein Historiker und Major im Generalstab eine 500 Seiten starke Dissertation mit 2.000 Fußnoten zu den Umtrieben der „Untergrundarmee“ vorgelegt, die er zur Freiwilligentruppe engagierter Patrioten verharmlost.

Messer von Victorinox

Sicherheit beginnt für viele Schweizer nicht erst im Bunker, sondern bereits in der Hosentasche

Sicherheit beginnt für viele Schweizer nicht erst im Bunker, sondern bereits in der Hosentasche. Zu den weltweit am weitesten verbreiteten Produkten aus der Alpenrepublik gehört das an jedem Bahnhof, jedem Flughafen und in jedem Souvenirshop rund um den Globus erhältliche „Schweizer Messer“ der Firma Victorinox aus Ibach im Kanton Schwyz. Doch der Ausdruck „Schweizer Messer“ ist unpräzise. Denn das im Original in der Armee gebräuchliche Messer gibt es in zwei Versionen – einem Soldaten- und einem Offiziersmesser. Beide wurden 1897 patentiert. Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Messertypen: einen Korkenzieher, um Weinflaschen zu öffnen, besitzt nur die Version für Offiziere. Einfache Soldaten sollen sich mit Bier und Fusel begnügen. Die Annahme, höhere Offiziere und Ministerialbeamte nützten den Korkenzieher an ihren Messern zum Öffnen von Weinflaschen, ist jedoch ein Gerücht. Ein Untersuchungsbericht ergab, dass Kaderleute aus dem militärischen Schweizer-Olymp Essensspesen bis zu umgerechnet 440 Euro ohne Angabe von Verwendungszwecken und „Spesendetektive“ abwickeln.

Spitzenkräfte verfügen sogar über Kreditkarten des Ministeriums. Beim Weihnachtsessen von General Daniel Baumgartner für 28 Gäste fielen 2015 pro Kopf umgerechnet rund 70 Euro allein für alkoholische Getränke an. Allerdings verordnete der Verteidigungsminister am 12. November einen „Kulturwandel“ beim Saufen auf Staatskosten.

Die Schweiz ist ein Land der fast unbegrenzten Zumutungen. Und das nicht nur, wenn es um ihre Armee geht. Blochers SVP möchte nach der herben Niederlage mit der „Selbstbestimmungsinitiative“ jetzt trotzig „Swissness first“ zur Staatsdoktrin küren. Sie verlangt, die mit der Europäischen Union vertraglich vereinbarte, legale Migration einseitig zu begrenzen, und startet damit einen Frontalangriff auf die Personenfreizügigkeit.

Der Zürcher Rechtsprofessor und SVP-Advokat Hans-Ueli Vogt bekommt also neue Arbeit, dieses Mal mit einer „Begrenzungsinitiative“.