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Momente abgründiger Zärtlichkeit

Dramen, die homosexuelle Liebe verhandeln, kommen sehr selten auf die Bühne. In einer klug-spartanischen Inszenierung von Dimitri Sokolows schwuler Lovestory „Russian Boy“ lässt Eliana Finkel am Staatstheater Oldenburg jetzt selbstvergessenes Glück unter den Bedingungen der Repression aufscheinen

Von Benno Schirrmeister

Wirklich sehr schön ist jener Moment im elften Bild, als Artjom seinem Freund Mischa von seinem großen Traum erzählt hat: zu „Voice of Russia“ gehen, berühmt werden, Follower haben. Mischa, der als Promi-Friseur in Moskau den Produzenten kennt, hat sich erst geziert, aber dann doch ja gesagt: Er stellt Artjom dem berühmten Produzenten vor, versprochen. Und Fabian Kulp, der die Hauptrolle von Dimitri Sokolows „Russian Boy“ bei der Uraufführung am Staatstheater Oldenburg spielt, rastet total aus vor Freude darüber.

Er will Fabian Felix Dott, ein feinnervig und wohltuend fern von Klischees dargestellter Coiffeur, um den Hals fallen, ihn wirklich abknutschen. Und genau in dem Augenblick überfällt, wie ein Schrecken, die beiden die jähe Erkenntnis: Das geht nicht! Wenn uns jetzt jemand sieht! Das können wir nicht öffentlich machen! Nicht hier, nicht hier in Russland, nicht mal in Moskau.

Die Einsicht lässt den Kuss im Ansatz erfrieren: „Vielleicht ist es woanders anders, aber bei uns nicht“, hatte Artjom schon in einer der ersten Szenen des Abends gesagt. „Bei uns wird dir für so was der Kopf weggeschossen.“ Und dieses Entsetzen, die Erkenntnis, dass sich die beiden von ihrer Liebe haben übermannen lassen, alles um sich herum vergessen, und dadurch fast Gefahr gelaufen wären, ihre Existenzen zu ruinieren, dass sie für diesen Kuss ganz beiläufig ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben – das alles teilt sich im Bruchteil einer Sekunde darin mit, wie sich die beiden jungen Darsteller anschauen. Es liegt in ihren Blicken.

Und so gerät dieser Moment abgründiger Zärtlichkeit zu einem Höhepunkt in Elina Finkels sonst eher spartanischen Inszenierung dieser schwulen Lovestory. Dass die aufgeführt wird, ist bemerkenswert, einerseits, weil auch im Westen Dramen, die homosexuelle Liebe verhandeln, sehr selten auf die Bühne kommen. Vielleicht gibt es ja nur sehr wenige: Selbst das, was von der attischen Tragödie überliefert wurde, wirkt bei aller griechischen Knabenliebe eher heteronormativ, und danach herrscht ohnehin die große christliche Ächtung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, mit Ausnahme der 1920er-Jahre: Klar, angedeutet wird vieles. Aber selbst offen schwule Großdramatiker wie Jean Genet, Truman Capote oder Bernard-Marie Koltès haben sich schwer damit getan, Szenen explizit gleichgeschlechtlicher Liebe zu entwerfen.

Dringlicher wird das Thema in „Russian Boy“, weil sein bislang in Deutschland noch völlig unbekannter 35-jähriger Autor eben aus einem jener Länder kommt, das homosexuelle Handlungen zwar ebenso wie Deutschland seit den 1990er-Jahren nicht mehr unter Strafe stellt, aber anders als das westliche Europa Gewalt gegen Schwule und Lesben sehr großzügig toleriert, oder eher fördert. Und sie weiterhin per Gesetz diskriminiert: „Ich habe ‚Russian Boy‘ im Bewusstsein geschrieben, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass das Stück in russischen Theatern gespielt werden wird“, hatte Sokolow vor der Premiere gesagt.

Tatsächlich gilt noch immer das Gesetz, das Werbung für Homosexualität – also alles, was sie auch nur wertneutral darstellt – verbietet. 2013 wurde es erlassen. Sicher, der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat diese Verfolgungspraxis vor einem Jahr für illegal erklärt. Aber solche Quisquilien ignoriert Putins Staat ganz offensiv, wie die Straßburger Richter erst im vergangenen September feststellen mussten.

„Ich konnte nicht schweigen“, das benennt Sokolow jetzt als den Grund, das Drama zu verfassen: „Ich hatte mich zu diesem Thema zu äußern.“ In dem Werk sehe er „eine winzige Möglichkeit, irgendwas zu unternehmen“. Zu diesem Engagement gehört auch, und das ist die für den Westen vielleicht interessanteste Botschaft, zu zeigen, dass es ein schwules Leben, eine queere Szene nur halb-klandestin in Russland überhaupt gibt, in der sich gefährliche Momente des selbstvergessenen Glücks ereignen.

„Vielleicht ist es woanders anders, aber bei uns nicht. Bei uns wird dir für so was der Kopf weggeschossen“

Artjom, Hauptfigur in Dimitri Sokolows Drama „Russian Boy“

Konzipiert hat Sokolow dafür eine Szenenfolge, die, oft in Form von Zeugenaussagen, ähnlich wie Talking Heads in Dokumentarfilmen, das Leben Artjoms Revue passieren lässt. Die Chronik reicht von seiner grotesk-komisch imaginierten außerehelichen Empfängnis mit Gottes Segen irgendwo auf dem Lande – die Mutter befolgt die Bauernregel, nach der ein Kind bekommt, wer im Morgentau oft genug nackt übers Feld läuft – über sein Leben, Lieben und zu Klump-gehauen-Werden in Moskau. Dort studiert Artjom Schauspiel und jobbt in einer Gay-Sauna, erst als Aufguss-Boy, dann als Schwanzlutscher in ihren verdunkelten Hinterzimmern. Und am Schluss steht die strahlend-märchenhafte Verklärung: Alle erfreuen sich aneinander, zusammen mit Mischa repariert Artjom endlich das Dach von Mamas Hütte, und Frau, Kinder, Schläger, Fernsehproduzent sind glücklich und zufrieden bis an ihr Ende. Weil sonst alles so ausweglos und trüb wäre.

Denn überall, wo Liebe versucht aufzublühen, wird sie durch die äußeren Zwänge, durch die Heimlichkeit zunichte gemacht. Artjom kann sich seiner Mutter Ljudmilla nicht anvertrauen, die Helen Wendt als aufopferungsvolle, aber auch komisch-resolute Person gibt. Mischa muss seine schwangere Frau Lena betrügen, um glücklich zu sein: Agnes Kammerer versucht, leider völlig temperamentlos, deren Empörung darzustellen, als sie davon erfährt. Später stirbt dann Mischa beim Autounfall, und dass Artjom sich um ihren Sohn so rührend kümmert und mit dem Baby so nett spielt, macht Lena einfach nur Angst und sie schickt ihn weg. „Ich meine, was ist, wenn das doch ansteckend ist? Man weiß es ja nicht.“

Den Verzicht auf Erfüllung und auf Sinnlichkeit, den das Stück thematisiert, hat Finkel zum Konzept ihrer Inszenierung gemacht: Von den 18 Personen der Handlung treten nur vier plus der Erzähler auf, der Rest, auch TV-Produzent, wird von den übrigen Akteur*innen gesichtet, benannt und angespielt. Hie und da versetzt Helen Wendts diskrete Choreografie die Darsteller*innen in Schwingung, sehr schön ist ein distanzierter Pas de deux von Erzählerfigur und Mischa gleich beim ersten Sauna-Aufguss.

An die nackten Ziegelwände der herzoglichen Exerzierhalle, Oldenburgs experimenteller Spielstätte, hat Elena Bulochnikova anstelle einer Kulisse Leuchtschläuche installiert. Die zitieren mal in den Nationalfarben Weiß, Blau und Rot Umrisse von Russland-Stereotypen, Kremltürme, Rotem Stern. Mal indizieren sie als bloße Schriftzüge geformt Schauplätze wie die Bar oder die Sauna. Genauso weigert sich auch die Regie, die Bilder des Stücks wahr zu machen. Sex kommt vor, aber eher am Rande, wenn Mischa, noch bevor er in Artjoms Leben tritt, mit dem gut gebauten Johannes Schumacher fummelt, dem Erzähler, der die ausführlichen und kommentierenden Szeneanweisungen spricht, und aus Blecheimern immer wieder Blüten auf die Szene gießt: ein Bett aus Rosen. Der Traum vom Glück, das mehr Fantasie bleiben muss, erotischer Traum, mehr Möglichkeit, als Erfüllung. Die Wirklichkeit gibt es noch nicht.

Nächste Aufführungen: 24. und 29. 11., 20 Uhr, sowie 2. 12., 18 Uhr, Staatstheater Oldenburg, Exerzierhalle

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