: Viel Wind, wenig Bewegung
AUS IVEN JÖRG ALBINSKY
Füße gehören nicht auf den Tisch, das sieht Marvin ein. Der Dreijährige beugt sich wortlos der Anweisung seiner Mutter Katja, rutscht von der Couch und schiebt fortan einen Plastikmähdrescher über den Boden des Wohnzimmers. Den Mähdrescher hat er zum Geburtstag bekommen, sagt Ricardo, Marvins Vater, der in der Tür zur Küche steht. Katja und Ricardo schauen auf ihren Sohn. Beide lächeln: Katja, weil Marvin so schön spielt, Ricardo, weil die Idee mit dem Mähdrescher von ihm stammt. Ein Volltreffer. Der Geburtstag ist schon eine Weile her. Der Mähdrescher hat trotzdem noch nicht abgewirtschaftet.
Solche Geschenke gibt’s schließlich nicht alle Tage, sagt Katja. Sie sitzt aufrecht in ihrem Sessel und beantwortet ruhig alle Fragen. Sie sagt, was sie zu sagen hat, kein Wort zu viel, freundlich, bestimmt. Von Marvin erzählt sie und Lea, ihrer zweijährigen Tochter. Wie sie gemeinsam die Hunde nehmen und durch die Felder ziehen. Manchmal fahren sie zu ihren oder Ricardos Eltern. Und neulich, da waren sie sogar am Strand, in Zinnowitz an der Ostsee. Die Kinder spielen gern im Sand, sagt Katja und schaut kurz zu ihrer Tochter, die sich Papier geschnappt hat und auf dem Boden still vor sich hin malt.
Wenn das Radio in der Küche nicht ständig liefe, könnte man vielleicht den Wind hören, der ums Haus bläst. Die Kinder, sagt Katja, sollen nicht so ein beschissenes Leben haben. Ohne Arbeit und so. Nüchtern sagt sie das. Ricardo verschwindet wortlos in die Küche.
Vor ihrer Tür am Ende der Dorfstraße stehen zwei Ton-Elefanten, die indisch anmuten, aus China stammen und groß wie Hunde sind. Gleich hinterm Haus beginnen die Felder, auf denen die Rotoren der Windräder die Sommerluft pflügen. Sie drehen sich, sonst dreht sich hier fast nichts: nicht in Ostvorpommern, dem vergessenen Winkel vor der polnischen Grenze, nicht im Raum Anklam, wo jeder Dritte Arbeit sucht, und schon gar nicht in Iven, dem Dorf, wo Katja und Ricardo gelandet sind.
Hier leben sie nun, Ricardo Raasch und Katja Krüger, 27 und 21 Jahre alt. Ihre Geschichte wäre vielleicht gar keine, spielte sie nicht hier, in Iven bei Anklam, wo eine ganze Region den Anschluss verpasst hat. Es ist nicht die Geschichte zweier Arbeitsloser. Es geht um Menschen, deren Anker in die Gesellschaft gelöst ist und die nun treiben – still, ohne es zu merken.
Dreimal am Tag fährt der Bus die Stichstraße bis raus nach Iven, wendet auf dem kleinen Platz vor der Dorfkirche und karrt die wenigen Fahrgäste ins 25 Kilometer entfernte Anklam. Dorthin müssen sie zum Arzt, zum Einkauf oder zur Sozialagentur. Am Nachmittag kommt der Bus zurück. Dann ist Iven wieder vollzählig. Am Ende der Dorfstraße liegt Katjas und Ricardos grau verputzte Doppelhaushälfte, gemietet samt Schuppen, einem Zwinger für die zwei Schäferhunde und einem für die zwanzig Enten. Vor das Beet mit Lauch und Kohlrabi haben sie den Karnickelverschlag gestellt. Am Horizont wird grade die neue Autobahn in den pommerschen Sand gesetzt.
Ricardo kommt mit Pflaumenkuchen zurück ins Wohnzimmer. Er hat ihn selbst gebacken, er kann das. Die Früchte sind gleichmäßig auf dem Boden verteilt und so angeordnet, dass jedes Stück in etwa dieselbe Anzahl Früchte enthält. Er stellt den Kuchen auf den Tisch und sich selbst wieder in den Türrahmen, während Katja aus dem Nachbarzimmer einen Koffer holt und ihn mit Schwung auf den Tisch befördert. Das, sagt ihr Blick, ist viel versprechend. Auf einmal ist Bewegung im Zimmer. Sie klappt den Koffer auf, Marvin schaut über den Deckelrand auf die Fläschchen. Flacons. Armani, Boss, Chanel, Calvin Klein. Er habe, sagt Ricardo, schon fünf Flacons allein an seine Mutter verkauft. Das klappt richtig gut. 19 Euro die 50-ml-Flasche, 24 Euro die 100-ml-Flasche. Die Leute nehmen natürlich die großen, weil sich das rechnet. Und seit es in der Verwandtschaft läuft, haben sie nun auch diese Werbezettel geklebt. Im Konsum hängt auch einer. „Rasierwasser für den Herren“ steht auf dem Blatt und „Dekorative Kosmetik und Schmuck“. Das spricht sich rum, da kommt man schnell auf 60 Euro Gewinn im Monat, sagt Ricardo, während Katja Marvin ermahnt, der mit Schuhen auf der Couch steht.
War es schon mal anders? Bei Katja zu Hause in Altentreptow waren sie sechs Kinder. Die Mutter ging in die Glühlampenfabrik, der Stiefvater arbeitete als Koch – bis zur Wende jedenfalls. Also passte Katja auf ihre jüngeren Geschwister auf, später auf die Kinder ihres großen Bruders. Sie will mal in die Malerlehre gehen oder, noch besser, Tischlerin werden. Doch dafür reicht ihr Schulabschluss nicht. Und so kann sie mit siebzehn, als sie schwanger wird, die ungeliebte Hauswirtschaftslehre nach einem Jahr abbrechen.
Sie hat sich verliebt in diesen schüchternen Typ mit den freundlichen Augen, die mal zur Seite blicken, mal nach unten und nur selten ihr Gegenüber treffen. Eigentlich war Ricardo ja mit ihrer Schwester zusammen. Sie kennen sich alle von der Förderschule. Doch dann ist die Schwester abgehauen und er ist bei Katja gelandet. Das war vielleicht das Beste, was ihm je passiert ist. Er sitzt nicht im Gefängnis wie sein Bruder, trinkt kaum Alkohol, Ricardo ist hilfsbereit, bescheiden, freundlich. Er hat seinen Hauptschulabschluss nachgeholt und in einer Bäckerei gearbeitet. Das ist sein Job. Zwei Jahre bäckt er Brötchen, aber auch Kuchen, Torten und Plätzchen. Hätte das Herz des Meisters nicht versagt, er wäre wohl heute noch dort. So nimmt er neuen Anlauf und macht eine Kochlehre. Und es folgt, was in Ostvorpommern fast immer folgt: nichts. Bis, ja bis er Katja trifft.
Also raus, weg von zu Hause, rein ins eigene Leben. Sie ziehen zusammen und schon ein Jahr nach Marvins Geburt kommt Lea zur Welt. Das überfordert beide. Auf einmal kommen sie nicht klar, nicht mit den Behörden, dem Haushalt, nicht mit sich selbst. Sie haben kaum Geld. Ihre Eltern und die meisten Geschwister sind Jahre schon ohne Job. Fünf Mal ziehen sie um, wechseln die Dörfer. Aus der Fernheizung werden Kohleöfen, aus 500 Euro Miete werden 260, bis sie schließlich die Ivener Doppelhaushälfte finden. Und tatsächlich, es wird wieder gelacht im Haus. Ricardo liest zweimal die Woche die Stellenanzeigen in der Ostsee-Zeitung, auch in der Hamburger Morgenpost. Katja lässt sich piercen, ein kleiner Metallstift zwischen Kinn und Unterlippe. Es geht aufwärts.
Iven hat einen Landwirtschaftsbetrieb, den alle LPG nennen, eine sanierte Kirche mit regelmäßigem Gottesdienst, einen Gemischtwarenladen, zu dem alle Konsum sagen, und sogar eine Kneipe. Der „Dorfkrug“ öffnet am Wochenende. Der Kneiper kommt extra aus Jena hergefahren. Er hat Verwandte in Iven, deswegen macht er das. Katja weiß das, man hört es im Dorf. Ricardo und sie gehen trotzdem nicht hin. Wir trinken zu Hause, das ist billiger, sagt sie, lacht und rüttelt ihren Pferdeschwanz zurecht. Hier gibt’s ja fast nur Alte. Freunde, nein, Freunde haben sie nicht.
Mit einer Familie waren sie mal bekannt, hier aus dem Dorf. Die haben auch vier Kinder und sind viel älter. Aber dann war Spielzeug weg, immer mal wieder. Die haben das geklaut, ganz sicher. Nee, da is kein Kontakt mehr. Dann verzicht ich lieber auf Freundschaft.
Wie lästigen Zigarettenrauch vertreibt sie mit einem Wisch durch die Luft den Ausflug in die Welt der Bekannten. Ricardo legt für Lea und Marvin eine DVD ein. Die Kinder haben ja sich, die müssen nicht mit denen spielen. Und Kino, Kegelklub, Faschingsverein, Disko? Disko? Da weißt du doch nicht, was du kriegst. Dann machen die noch Drogen in die Getränke rein, nee, mein Fall ist das nich.
Ricardo steht in der Tür zur Küche. Es wird sich vieles ändern. Jetzt, Ende des Sommers, sollen Marvin und Lea in den Kindergarten. Katja bekommt Arbeit. Das ist ziemlich sicher. Sie ist unter 25, das wird belohnt vom Staat. Eine richtige Arbeit hat die Sozialagentur versprochen, einen 1-Euro-Job. Doch dafür muss das mit dem Kindergarten klappen. Marvin war schon mal in einem Kindergarten. Der stille Junge mit den weichen Zügen ist mit blauen Flecken nach Hause gekommen. Die Brille war kaputt. Ein paar Mal ging das so, dann hat ihn Katja wieder rausgenommen. Deswegen muss das in dem anderen Kindergarten gut gehen, ich will unbedingt arbeiten. Sie zündet sich eine Zigarette an. Man muss den Kindern doch Vorbild sein.
Ricardo schaut mit seinen großen Augen aus der Küche. Wenn er so dasteht, zieht er seine Schultern weit nach vorn, der Rücken wird rund, das macht ihn älter. Aus dem Radio im Nebenzimmer rasseln Meldungen. In der Geschäftsstelle der Sozialagentur Anklam seien im letzten Monat 29 Stellenangebote registriert worden. Das sei gegenüber dem Vormonat ein Rückgang um 5. Im Vergleich zum Vorjahr … Lea hopst aus dem Wohnzimmer in die Küche und zurück, Marvin ist längst wieder mit seinem Mähdrescher zugange. „Na“, sagt Katja, „Hauptsache, die Kinder haben’s mal besser.“ Ricardo steht im Türrahmen und lächelt.