: So Jungsgeschichten
Bodo Kirchhoffs Missbrauchs-Roman „Dämmer und Aufruhr“ ist kein kalkuliertes Bekenntnis. Und ist zu guten Teilen auch sehr überzeugend. Wenn da nur nicht das letzte Drittel wäre
Von Nina Apin
Du musst unbedingt den neuen Kirchhoff lesen“. Wer als Journalistin, die über sexuelle Gewalt schreibt, einen Roman so angekündigt bekommt – bekannter deutscher Autor verarbeitet den eigenen sexuellen Missbrauch –, ist erst mal: neugierig. Bodo Kirchhoff also, Buchpreisträger, auch umstritten wegen seiner Vorliebe für Schmuddeliges. Ausgerechnet dieser die (eigene) Männlichkeit Feiernde schreibt darüber, was ihm als Junge widerfahren ist. Wer ein paar von Kirchhoffs Büchern kennt, die überdrehte Krimiparodie „Schundroman“ oder die krasse Novelle „Ohne Eifer, ohne Zorn“, kann Angst kriegen vor so einem Buch. Aber da gibt es ja auch noch die anderen Werke, die zarte Liebesgeschichte „Parlando“ etwa.
„Dämmer und Aufruhr“ ist zunächst gar kein Buch über Missbrauch, also nicht nur. Es enthält auch keine Sensationen: Schließlich hat Bodo Kirchhoff schon vor Jahren im Spiegel und anderswo seinen Missbrauch durch einen Internatslehrer thematisiert. Dieser Roman ist kein kalkuliertes Bekenntnis in Zeiten von #MeToo- und doch Bekenntnisliteratur: radikal, klug und, ja: schön.
Zunächst wird man in eine Coming-of-Age-Geschichte hineingezogen: Es ist die Geschichte eines mittelalten Mannes, der sich zurückerinnert an Momente und Begegnungen, die ihn geformt haben. Am Anfang ist da, klar, die Familie im Hamburg der Nachkriegszeit. Die jungen Eltern: ein einbeiniger Kriegsversehrter mit Unternehmerambitionen, eine Schauspielerin mit Geltungsdrang und die Oma aus Wien, einst Operettensängerin. Der Bub, das Noch-Einzelkind, wird auf ungesunde Weise vergöttert wie emotional vernachlässigt. Im Sommerurlaub in den österreichischen Bergen ist der knapp Vierjährige zum Erkunden des mütterlichen Körpers eingeladen, ja gedrängt. Er tut es mit Fingern, einem grünen Bleistift – und wird darüber zum „Unkind, das schon haben will, was es hatte, das schon begehrt“.
Bodo Kirchhoff: „Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2018. 480 Seiten, 26 €
Im Rückblick formuliert der erwachsene Erzähler Unbehagen über die eigene Lust am Unerhörten. Klar beschreibt er aber auch die unabstreitbaren Momente der Wonne. Was im Kleinkind angelegt, am Jungen angerichtet wurde, tritt wieder zurück hinter die Romanhandlung. Spannungen im Elternhaus, die kleine Schwester, der Umzug nach Kirchzarten im Schwarzwald. Das Kino, der See, Dorf- und Jungsgeschichten.
Die Elternehe zerbricht, der Junge wird abgeschoben in ein Internat am Bodensee. Verwirrt und bedürftig ist er leichte Beute für einen mit Indianerhaar, Zigarette und Raubtierinstinkt. Der Sportlehrer und Kantor des Internats ist der klassische pädophile Täter, der durch seine Blicke beim Duschen Jungenkörper markiert, die er sich später im Schlafsaal nimmt. Und der von den Blicken Markierte, mit den beiläufig auf dem Flur geraunten Worten „Du Schöner“ Geköderte, unterwirft sich. Wieder ist es der Erwachsene, ein Foto von sich im gestreiften Pyjama betrachtend, der im Rückblick bewertet, im gerade Elfjährigen schon den „Beleg einer stillen Verwahrlosung“ erkennt. „Es ist die Haltung, die mich verrät, die Position zwischen Liegen und Sitzen, die selbst ein Anstaltsbett zum Lotterbett macht.“
Es ist mutig, ja selbstentblößend, wie Kirchhoff die Lust des Elfjährigen im Bett des Kantors schildert: der erste Kuss, die Erniedrigung, die Ejakulation im Schein einer roten Adventskerze. Die törichte Verliebtheit des auserwählten Knaben, der sich verzaubert fühlt – und doch nur einer von mehreren ist. Als der Kantor bei Nacht und Nebel nach Südamerika entschwindet, bleibt ein gedemütigtes Kind voller Wut und Einsamkeit. Wohin der Zorn und die Sehnsucht den Heranwachsenden in den Folgejahren treiben, in verfrühte Affären und Pornofilme im Dorfkino, zu Huren und in Säuferkneipen, all das ist glänzend erzählt. Die zwischengestreuten Mutter-Sohn-Szenen, in denen der nunmehr erwachsene „Augenstern“ die Mutter im Seniorenheim besucht, sind anrührend. Brutal, wie jegliches Sprechen über das Geschehene an der in ihre eigenen Fantasien eingemauerten Mutter abprallt.
Man versteht es alles: die Verstrickung, die Sprachlosigkeit, die Fallstricke der Erinnerung, die überall lauern. Kirchhoff meistert das alles scheinbar mit links.
Bis zum letzten Drittel des Romans. Da, in den Siebzigern, als der Protagonist sich als Liebhaber und Schriftsteller versucht, kippt das Lese-Erlebnis plötzlich. Seltsam, dass Kirchhoffs Sprache vor dem ganz normalen Sex zu versagen scheint. Da drängt das Pulsende ins Weiche, wird „das Verräterische“ von bestimmter Hand in den Busch geführt – ungelenk ist das und verschwiemelt. Traut Kirchhoff den eigenen Worten nicht mehr – oder ist da doch ein Sprachloch, entstanden durch vergangene Verletzungen?
Vielleicht liegt der wachsende Unwille beim Lesen aber auch an der Leserin? Die stört, dass die Frauen, die der junge Mann begehrt, Abziehbilder ohne Namen sind. „Die eigentlich Vergebene mit den großen Augen und der Figur einer soliden Vase“– ernsthaft? Und warum reserviert der Erzähler alles Intellektuelle für sich und wenige (männliche) Gegenüber, und die Frauen stricken und machen Selbsterfahrung und seufzen im Bett? Dieses selbstbezogene Männeruniversum aus Kaschemmen und Sportstudios (Ende der Siebziger entdeckt der Protagonist das Bodybuilding) wurde schon zu oft ausgebreitet. Dieses Bukowskihafte, das Fauserige – man mag es irgendwie nicht mehr lesen. Vielleicht ist aber auch der Sound der Siebziger so meisterhaft eingefangen, dass er Abwehrreflexe erzeugt? Am Ende überträgt sich die ganze Ambivalenz des Erzählers Kirchhoff auf sein Publikum.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen