Erstbesuch in der Dichterwerkstatt

Mexiko, Anfang der 1970er Jahre: „Der Geist der Science-Fiction“ – ein Frühwerk des chilenischen Kultautors Roberto Bolaño

Von René Hamann

Dennis Scheck hat recht. Es gibt „zwei Portalfiguren in der Weltliteratur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“, so hat er sich ausgedrückt, als er in der letzten Ausgabe des Literarischen Quartetts zu Gast war, nämlich David Foster Wallace und Roberto Bolaño. Zwei Autoren, die der Literatur einen Weg ins neue Jahrtausend gezeigt haben; beide haben – freiwillig und unfreiwillig – von diesem neuen Jahrtausend nicht mehr viel erlebt. Wallace starb 2008, Bolaño bereits 2003 an den Folgen einer Leberzirrhose und wegen mangelnder Organspenden.

Bolaños „Opus Magnum“ erschien erst postum, das war der trotz seiner Fragmenthaftigkeit mehr als dicke Schmöker „2666“, ein Roman auf mehr als tausend Seiten. Ob „2666“ sein bestes Buch war, darüber kann man sich streiten. Der noch zu Lebzeiten erschienene Roman „Die wilden Detektive“, der auch Bolaños Durchbruch in Lateinamerika bedeutete, ist vielleicht sogar das schillerndere, spannendere, sentimentalere Buch. Aber im Grunde, darauf will ich hinaus, hat Roberto Bolaño schon immer an „2666“ geschrieben, an einem labyrinthischen Superbuch, das in seinen Einzelteilen weit verzweigt ist, aber immer wieder dieselben Grundmotive hat.

Das gilt auch für diesen weiteren postum erschienenen Roman, das Frühwerk „Der Geist der Science-Fiction“. Dieses Buch behandelt die frühen siebziger Jahre in Mexiko-Stadt, wohin zwei chilenische Jungautoren auf welchen Wegen auch immer gelangt sind, ein Ursprung, den man schon aus den „Detektiven“ kennt. Mindestens daher kennt man auch die zwei Gedichte schreibenden Schwestern, die immer wieder mit anderen Namen in Bolaños Büchern auftauchen, genauso wie der gesamte Untergrund der damaligen mexikanischen Literaturszene. In „Science-Fiction“ heißen die beiden Protagonisten Remo (statt Arturo, wie sonst) und Jan; Bolaños Vorliebe für alles Deutsche (und Nazihafte) ist auch hier schon angelegt. Remo und Jan teilen sich einen Dachstuhl, in dem sie hausen, und auch besagte Schwestern; Jan schreibt lustig-verschrobene Briefe an seine Lieblings-SF-Schriftsteller, die den Roman ebenso durchziehen wie ein Interview mit einem namenlos bleibenden Autor, der einen wichtigen Literaturpreis erhalten hat.

Zum Ende hin bekommt der Roman einen Dreh ins Schwülstige, wenn eine Sexszene in aller Merkwürdigkeit in einem mexikanischen Dampfbad erzählt wird. Vorher gibt es eine sehr lustige und erhellende Beschreibung eines Erstbesuchs bei einer Dichterwerkstatt; wer Ähnliches einmal erlebt hat, wird sich bestens gespiegelt sehen. Viel mehr Handlung ist nicht.

Insgesamt ist „Der Geist der Science-Fiction“ lockerer und experimenteller als es etwa „2666“ ist; die Atmosphäre ist so poetisch wie surreal. Mit diesem Fundstück scheint ein weiterer Stollen im Bolaño’schen Bergwerk ausgeleuchtet zu sein, aber wieder führt er zurück, quer und vorwärts in die anderen, bislang entdeckten Verzweigungen (und in weitere, die noch unentdeckt sind); dass Bolaño ein Borges-Verehrer war, nimmt kaum Wunder. Der Exil-Chilene Bolaño hatte vielleicht auch sehr viel Zeit, damals auf dem Campingplatz nahe Barcelona, auf dem er als Nachtpförtner arbeitete und seine Romane in Hefte schrieb, wie man dank Faksimiles in dieser Ausgabe sehen kann.

Mag sein, dass „Science-Fiction“ für Liebhabende linearer Literatur mit spannungsgeladener Handlung eine Herausforderung ist. Und es mag sein, dass Bolaño das Buch zu Lebzeiten (beendet hat er es 1984) eher als Vorübung zu den „Detektiven“ verstand, weshalb es lange unveröffentlicht blieb. Es ist aber eine Herausforderung, die sich lohnt. Aber das gilt, da sind wir ganz bei Scheck, für jedes Buch von Bolaño.

Roberto Bolaño: „Der Geist der Science-Fiction“. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. S.Fischer, Frankfurt 2018. 256 Seiten, 22 Euro