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Es ist Raum für Liebe im Ökosystem

Erstmals fand das Dice-Festival im Neuköllner Arkaoda statt. Dort traten so unterschiedliche Künstlerinnen wie die griechische Elektronikpionierin Lena Platonos und die ugandische Festivalgründerin DJ Kampire auf

Hat in Jinja (Uganda) das Nyege-Nyege-Festival gegründet und war nun in Berlin zu Gast: DJ KampireFoto: Foto: Tabeja Ivana Ćubelić

Von Oliver Kontny

Vermutlich weist Berlin mehr Festivals auf als Start-ups, und hier wie dort kann man von einem Ökosystem sprechen. Es gibt Nischen, es gibt Fressfeinde, es gibt viele Klagen über die äußeren Bedingungen und ab und an eine überraschende Neupopulation, ganz wie bei den Käfern. Im aus Istanbul übergesiedelten Arkaoda Berlin am Karl-Marx-Platz finden sich nicht nur Teile der jungen, urbanen Mittelschicht ein, die angesichts der politischen Entwicklungen in den letzten Jahren die Türkei verlassen haben; der Club ist integraler Bestandteil der anglophonen Ausgehökonomie mit ihren vorhersehbaren Dresscodes. In diesem Rahmen fand von Donnerstag bis Samstag das Dice-Festival statt.

Auf die ersten paar Blicke weist kaum etwas darauf hin, dass die Protagonistinnen dieses Festivals ausschließlich Frauen, Trans- und nicht-binäre Künstler_innen sind – bis aufs Line-up selbst. Die Kuratorinnen werden sich für ihre Setzung wohl kaum mit dem Argument rechtfertigen müssen, dass die Vielseitigkeit und Qualität der einzelnen Acts im Vordergrund stand, denn man sieht ohnehin nur das. Man müsste schon Jens Spahn sein, um hier ideologische Verbissenheit, unfaire Ausschlüsse oder eine bemühte Bookingpolitik zu wittern.

Der Freitagabend ist auf den spektakulären Auftritt einer Künstlerin zugeschnitten, die ihre eigene Crowd angezogen hat. Lena Platonos verkörperte in den 1980er Jahren die artifizielle, androgyne Ästhetik des Synth-Pops in griechischer Sprache. Das Label Dark Entries begann 2015 ihre klassischen, elektronischen Alben wiederzuveröffentlichen und die vintagehungrige globale Szene machte aus ihr eine Überfigur: Frau. Griechenland. Vor-meiner-Geburt. Awesome. Die Retromanie ist beständig auf der Suche nach noch unausgegrabenen Artefakten, die über die Imaginationsarmut der heutigen Popkultur hinwegtrösten können, ohne zu schwer verdaulich zu sein. Lena Platonos’ erster Auftritt in Berlin mag diesem modehaften Interesse einer Nachwelt geschuldet sein, die so schnelllebig ist, dass sie ihre ausgebuddelten Vorfahren noch bei lebendigem Leib vorfindet. Bis sie mit gehöriger Verspätung und einer gewissen Hilflosigkeit die Bühne betritt, wirkt das Publikum uniform und unverortbar, es könnte irgendein Abend irgendwo in Neukölln sein. Ihre Stimme ist gebrochen; im ersten Song klingt das tragisch, schön, ein wenig erhaben, melancholisch. Im zweiten Song klingt sie weinerlich, es wirkt so, als falle sie aus einem rigiden Rahmen heraus, den ihre mäßige Begleitband setzt. Platonos, Jahrgang 1951, ist spürbar erschöpft, stehen kann sie nicht. Kurzfristig übernimmt ein Mann aus der Band ihren Gesangspart. Doch es beginnen Gäste mitzusingen, viele sind textsicher und tragen die Frau, mit deren Stimme sie vermutlich aufwuchsen, durch den Abend. Berlin hat eine queere, griechischsprachige Community, die sich nicht daran orientiert, welche Vinyl-Reissues wo für wie viel Geld gehandelt werden, es geht hier pathetisch ausgedrückt um Liebe. Bäm.

Dennoch ließe sich Platonos' Auftritt als Bild für das sich auflösende Europa mit seinen in Neoliberalismus und Überalterung untergehenden Sub- und Gegenkulturen lesen, als verblassenden Ausdruck einer Lebenshaltung, der die materielle Grundlage abhanden gekommen ist. Nur: Was kommt danach?

Ihr Gesang klingt tragisch, schön, ein wenig erhaben, melancholisch

Als Platonos und ihre Fans gegangen sind, legt DJ Kampire aus Uganda auf. Da sie mit Ende zwanzig keine Lust hatte, für fragwürdige NGOs zu arbeiten, begann sie in Kampala mit Freund_innen ein Festival zu organisieren, das zu einem Anziehungspunkt der queeren Community und superdiversen Großstadtpopulation wurde. Trotz mancher Anfeindungen durch Konservative ist Nyege Nyege zu einem neuartigen Raum in der Ausgehkultur Ostafrikas geworden und Kampire, die dort einfach mal so auflegte, jettet sprichwörtlich von Berlin nach Tokio. Die afrikanische elektronische Musik, die sie mitbringt, geht gegen die selektive Wahrnehmung der europäischen Musikindustrie: „Ich bin definitiv dafür unterwegs, dass Afrikaner*innen ihre eigenen Geschichten selbst erzählen“, sagt sie am nächsten Morgen im Café Rix. Die wachsende Offenheit für Musik, die komplexer ist als Four-to-the-Floor, führt sie direkt auf die Präsenz queerer und nichtweißer Protagonistinnen in den internationalen Clubszenen zurück. „Als Einfluss im Hintergrund war afrikanische Musik immer da, aber jetzt werden die diversen Musikszenen verschiedener afrikanischer Länder sichtbarer. Die elektronische Tanzmusik braucht neue Inspirationen wie diese.“

Allein dafür, dass das Dice-Festival die Geschichten von Platonos und Kampire nebenein­anderstellt, hat es seinen Platz im Ökosystem Berlins verdient.

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