: Noch acht Wochen bis Weihnachten
Der Herbst, sagen Kritiker der schönsten Jahreszeit gerne, atme mit jeder Faser Vergänglichkeit. In der Luft liege Moder, auf dem Boden liegen Blätter und im Keller ganz sicher ein paar Leichen, gleich neben der Stimmung. Vom Geruch des Todes geschüttelt kaufen die Kritiker Lebkuchen im Zehnerpack, trinken Chai-Tee mit Kardamom, zünden Kerzen an und basteln Adventskalender – noch acht Wochen bis Weihnachten! Danach schnell Silvester, Januar und Februar, bäh. Wenn’s geht, noch zehn Tage Sonne tanken in Lanza, und danach kann man mit ein bisschen Glück des Frühlings blaues Band schon vorbeiflattern sehen. Uff, geschafft.
Sie haben ja recht, die Kritiker: Der Herbst ist ein Sinnbild der Vergänglichkeit. Allerdings nicht wegen der modrigen Blätter, die auf dem Boden verwesen und zu feuchtem Humus werden, sondern weil Schönheit immer vergänglich ist. Gerade darin liegt schließlich ein Großteil ihrer Anziehung. Deshalb kann uns der Herbst lehren – wenn wir es denn zulassen –, uns dem Moment hinzugeben, anstatt immer nur der Zukunft entgegenzuhetzen.
Und Momente gibt es viele. Die ersten Kastanien. Die ersten gelben Blätter. Der erste Morgennebel. Die letzten Kastanien. Die letzten gelben Blätter. Und, vor allem: die ersten roten. Im Gegensatz zum trägen Sommer, der sich über Monate stinkfaul hinwegräkelt, sind die goldenen Momente im Herbst flüchtig. Wer heute nicht den Lichteinfall auf den bunten Blättern bewundert, hat morgen möglicherweise keine Gelegenheit mehr dazu. Im Zweifel kommt ein Herbststurm und fegt in einem Aufwasch die Bäume leer. Chance vertan, nächstes Jahr wieder. Wer also die schönsten Wochen des Jahres nur damit verbringt, von einem Termin zum anderen zu rennen, guckt eines Tages aus dem Fenster und alles ist kahl. Beim Anblick dieser Astgerippe kann einem schon mal frisch ums Herz werden, da hilft dann auch kein Chai-Tee mehr. Höchstens Glühwein mit Schuss.
Deshalb finden auch nur herbsterprobte Menschen den Fehler im obigen Bild: eine Grünpflanze inmitten von gelbbeblätterten Bäumen. Das Foto entstand beim Umzug ins neue taz-Haus, Wenn man ganz genau hinsieht, kann man übrigens sehen, wie sie ihren freilebenden Freunden im Besselpark sehnsüchtig hinterhersieht, im Wissen, dass sie im Gegensatz zu ihnen immer grün hinter den Ohren bleiben wird.
Franziska Seyboldt
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