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Archiv-Artikel

Ein Gärtner im Paradies

Die EU kennt ganze fünf Tomatensorten – der Tomatenhimmel sieht anders aus. Noch!

von TILL EHRLICH

Das Paradies ist nah. Es liegt im Burgenland, eine Autostunde von Wien entfernt, im pannonischen Osten Österreichs, zwischen hoch gewachsenem Mais und verblühten Sonnenblumen. Hinter dem Ortsausgang der Gemeinde Frauenkirchen. Es ist ein riesiges Tomatenfeld. Tomaten, so weit das Auge reicht. Die werden in Österreich Paradeiser genannt. Paradiesäpfel. „Willkommen im Paradies der Paradeis“, verkündet ein Schild.

Das Feld ist 3,5 Hektar groß, bepflanzt mit 90.000 Tomatensträuchern. Das Besondere daran: Es sind über 3.200 verschiedene Sorten, auf einem Tomatenfeld. Es sind keine der heute handelsüblichen schnell reifenden Einheitssorten, sondern alte Bauern- und Gartensorten. Dem Vergessen entrissen durch Erich Stekovics. Er hat das Feld angelegt. Die Tomaten tragen wundersame Namen wie „Blaue Tanne“, „Gelbe Königin“, „Ochsenherz“, „Deutscher Fleiß“, „White Beauty“ oder „Frühe Liebe“.

Hier, am östlichen Ufer des Neusiedlersees, gedeihen die Tomaten in einer archaisch anmutenden Form. Sie werden von Stekovics weder nach den üblichen Normen der Tomatenindustrie auf Nährstofflösungen gezogen noch in Folienzelten oder Glastunneln angebaut. Sie wachsen im Freien. Werden weder bewässert noch mit Chemikalien besprüht. Sie sind ungeschützt Sonne, Regen und Wind ausgesetzt. Das ist risikoreich, doch die Aromen der Früchte können sich so am stärksten entwickeln. Die dunkle Erde ist um die Sträucher herum mit hellem Stroh bedeckt. Es saugt Nässe auf und speichert die Hitze des Tages, gibt sie auch in der Nacht an die Pflanzen ab. Die Tomate ist ein tropisches Gewächs, das Wärme liebt und Nässe hasst. Ein giftiger Nachtschatten mit köstlicher Frucht.

Die geschmackliche Vielfalt ist im Zeitalter der holländischen Tomate ebenso in Vergessenheit geraten wie ihr faszinierendes Farbspektrum, das von grellem Orange und Gelb bis hin zu tiefem Blau, Violett und Braun reicht. Mehrere zehntausend Tomatensorten sind bekannt. Ganze fünf sind in der EU heute Standard. „Das sind keine Tomaten, sondern rote Tennisbälle“, sagt Erich Stekovics. Er läuft barfuß in Sandalen geschickt über das Stroh zwischen den Pflanzen, steigt vorsichtig über die dunkelgrünen Sträucher. Er zeigt auf einen Busch mit unzähligen zarten Blüten. Sie flattern gelb im Wind wie Schmetterlinge.

Das ist die originale Paradeis, die Kolumbus aus Amerika mitgebracht hat“, sagt der 39-Jährige. Die Früchte wirken winzig, wenig größer als Heidelbeeren. Die reife Kolumbus-Tomate ist nicht rot, sondern blau. „Ende September wird es so weit sein“, sagt Stekovics, den sie in Österreich „Paradeiser-Kaiser“, ja „Paradeiser-Papst“ nennen. Er pflückt eine Frucht, zupft behutsam den Blütenstängel ab. Ein weißer Stern wird sichtbar auf blauer Frucht. Stekovics zieht ein Tomatenmesser aus der Tasche, schneidet die Frucht auf. Ein feinkerniges und dunkel schattiertes Innenleben wird sichtbar. Wie schmeckt die Urmutter aller europäischen Tomaten? „Nach Kiwi“, sagt Stekovics und geht zu einem anderen Strauch.

Er pflückt eine große hellgelbe Frucht. Streicht leicht mit der Hand darüber, lächelt und haucht: „White Beauty“. Erich Stekovics überreicht sie mit feierlicher Geste, wie eine Hostie. Nun ist es keine Tomate mehr, sondern ein wahrer Paradiesapfel. Die köstliche Frucht einer giftigen und genügsamen Pflanze, die für sich selbst kaum Wasser braucht, doch den Durstigen laben kann. Lange Zeit hatte man in Europa Angst vor ihr, sie war bis ins späte 18. Jahrhundert hinein allein die schöne, giftige Zierpflanze. Dabei ist die Paradeis nicht nur eine kulinarische Delikatesse, sie ist gesund. Ihr wird eine prophylaktische Wirkung gegen Krebs, Gehirnschlag, Herz- und Gefäßkrankheiten bescheinigt. Doch sie hat auch eine andere Seite: als „Liebesapfel“ soll sie die Lust beleben. „Die Italiener haben es schnell herausgefunden“, sagt Stekovics. Manch einer hat sich auch vor der Tomate gefürchtet, sie als „Satansfrucht“ geschmäht.

Jetzt geht er immer weiter ins Paradeiserfeld hinein. Überall leuchten Früchte in schillernden Farben. Er pflückt ständig neue Paradeiser, jede schmeckt anders, keine gleicht der anderen. Jede hat einen andern Verwendungszweck. Es gibt spezielle Sorten für Salate, wie die „White Beauty“, oder Fleischtomaten für Soßen, wie die „Schlesische Himbeere“ und das „Ochsenherz“.

Und es gibt die hohle Paprikatomate, die sich perfekt zum Füllen und Überbacken eignet. Nun steht er vor der „Blauen Tanne“, einem Strauch mit blauen Blättern und scharlachroten Früchten. „Eine wunderschön behaarte Paradeis.“ Schließlich überreicht er eine kirschgroße Tomate: „Mein Liebling, die Gelbe Johannisbeer-Paradeis.“ Sie schmeckt nussig, besitzt subtile Süße. Doch warum kann man all diese köstlichen Sorten nicht mehr kaufen? „In zwanzig Jahren hat die Industrie zweitausend Jahre Paradeiserkultur wegradiert“, sagt er mit Empörung. „Unsere Zeit ist irr“, fügt er hinzu, „wir haben den Anspruch, gesund leben und gleichzeitig nur das Billigste essen zu wollen.“

Seine Eltern flüchteten nach dem Krieg von Serbien nach Österreich. Sie brachten aus der verlorenen Heimat Samen von Paprika und Paradeisern mit. Der Vater Labislaus Stekovics gründete 1958 im Burgenland einen florierenden Gemüseanbau. Für Erich Stekovics ist die Erinnerung an das köstliche Gemüse des Vaters mehr als der Geschmack und Duft seiner Kindheit. Es ist eine Geschmackswelt, die er später als verloren ansah. Abfinden konnte er sich damit nicht. 1999, nach einem Theologiestudium, verzichtete er darauf, Religionslehrer zu werden und begann die ersten Paradeiser zu pflanzen.

Er will sie retten. Alle. Jedes Jahr kommen noch mehr Sorten hinzu. Erich Stekovics bestellt Samen im Internet, lässt sie sich aus der ganzen Welt schicken, um sie auf seinem Feld aussäen zu können. Zudem arbeitet er mit Samensammlungen zusammen. Etwa der des niederösterreichischen Vereins „Arche Noah“, der ein umfangreiches Samenarchiv von raren Sorten besitzt. Doch Stekovics will kein Archivar sein. „Das größte Geheimnis der Landwirtschaft liegt im Wachsen und Gedeihen. Der Weg des Samens zur Frucht ist für mich ein einziges Danksagen.“ Er ist ein frommer Mensch. Und Missionar. 5.000 Besucher hat er allein im letzten Jahr durchs Paradeiserfeld geführt. Zugleich sagt er: „Ich bin kein Museumsleiter. Ich bin Landwirt.“

Doch wo bleibt die Sonne? Stekovics blickt deprimiert in den burgenländischen Himmel. Der ist grau. Eigentlich gibt es am Neusiedlersee 300 Sonnentage im Jahr, so viel wie in Süditalien. Im Juli und August fällt oft kein einziger Tropfen Regen. Dieses Jahr hat der Himmel wenig Erbarmen bislang mit dem Paradies der Paradeis: In den beiden Monaten fielen 300 Liter Niederschlag pro Quadratmeter, allein am vergangenen Wochenende waren es hundert Liter. Das macht ihm zu schaffen. Schließlich ist im August und September Ernte.

Bei gutem Wetter beginnen sie schon um sechs Uhr früh mit dem Ernten. Zwei Arbeiter pflücken den ganzen Tag auf dem Feld. Die Paradeiser werden vollreif geerntet. Deswegen muss alles schnell und mit großer Sorgfalt geschehen. Die Früchte werden sofort in seinem Haus in Frauenkirchen verarbeitet: püriert, eingeweckt oder eingelegt. In Gläsern bewahrt sich das Aroma der Paradiesäpfel am besten.

Vor dem Haus steht eine Stele aus Sandstein. Darin hat Stekovics gemeißelt: „Geschmack erzählt in schönster Weise vom Himmel.“

TILL EHRLICH, 40, ist freier Autor in Berlin