piwik no script img

Der Klub aus „Klein-Moskau“

Zu Beginn war der Verein BFSV Atlantik 97 im Hamburg-Neuallermöhe ein Anlaufpunkt für Russlanddeutsche. Heute kümmert er sich um alle Jugendlichen aus dem Stadtteil

Von Christian Görtzen

Augen zu und dann lauschen – genau hinhören, welchen Sound dieser Verein hat. Dafür ist der Abend ideal. Es ist ja einiges los auf dem Sportplatz 2000 des BFSV Atlantik 97 am Marie-Henning-Weg im Hamburger Stadtteil Neuallermöhe. Von der einen Seite des Gehwegs durch die große Anlage dringen klackende Holzgeräusche und russische Erwachsenenstimmen ans Ohr; von der anderen sind es die aufgeregten Rufe deutschsprachiger Kinder, die mit Verve einem Fußball nachjagen. Hier verbinden sich akustisch gerade Vergangenheit und Zukunft des 300 Mitglieder zählenden Klubs, deren „russische Seele sich in eine internationale Seele wandelt“, wie es Vereinsgründer Alexander Gaal ausdrückt.

Gorodki heißt das Spiel, das die Älteren in ihren Bann zieht. Bei dieser aus Russland stammenden Sportart geht es darum, mit der Bita, einem ein Meter langen Wurfstock, fünf Holzklötzchen aus ihrem Spielfeld zu schlagen. Der Teamsport ist ein Mitbringsel aus der alten Heimat, ein Identitätsstifter.

Der 1997 von Gaal, einem ehemaligen Bürgermeister einer kasachischen Kleinstadt, gegründeten Breiten- und Freizeitsportverein Atlantik 97 wurde damals umgehend zum Anlaufpunkt vieler Russlanddeutscher, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Neuallermöhe umgesiedelt waren. Rund 12.000 Menschen aus Russland, der Ukraine, Georgien, Kasachstan und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken lebten im Südosten Hamburgs in Wohnunterkünften.

Einer von ihnen war Vitali Rommel, der heutige Vorsitzende des Vereins. 1994 hatte er mit seinen Eltern und seiner Schwester als Nachkommen der Wolgadeutschen im Flugzeug nach Hamburg gesessen, sechs Jahre war er damals alt. Der erste Eindruck von Deutschland war süß – auf dem Weg in die neue Heimat gab es Zuckerhähnchen. Im Flugzeug hatte der kleine Kerl vor dem Verspeisen eines Hähnchens vor lauter Aufregung und sprachlicher Überforderung statt nach dem Salz- nach dem Zuckertütchen gegriffen.

So süß ging es nicht weiter. „Wir haben anderthalb Jahre lang im Containerdorf gelebt, vier Parteien teilten sich eine Wohneinheit. Meine Eltern, meine Schwester und ich hatten insgesamt 25 Quadratmeter“, erzählt Rommel, der sich noch gut an die Zeit erinnern kann, bevor in Neuallermöhe-West die Baumaschinen anrollten und die Erweiterung des Stadtteils für all die Neuankömmlinge begann. „Hier waren Büsche, hier war Sumpf. Sonst nicht viel. Und dann, auf einmal, hielt hier der Bus“, sagt der heute 31 Jahre alte Maschinenbauingenieur mit einem Lächeln.

Nach der Gründung des Vereins dauerte es nicht lange und auch Vitali Rommel war im Besitz eines Mitgliedsausweises. Er fing in der E-Jugend der Fußballsparte an und durchlief alle Altersklassen bis zu den Herren. Im ersten Team, das in der Kreisliga spielt und seine Heimspiele auf einem Grandplatz an der Böschung zur A25 austrägt, ist er noch immer aktiv. „Auf dem Rasen wurde früher nur Russisch gesprochen, das war normal so“, sagt er. „Einige Schiedsrichter wollten uns das verbieten, weil sie dachten, wir würden sie beleidigen. Wir sind dann dagegen angegangen. Es gab gelbe Karten.“

Kein leichter Start

Leicht war der Beginn wirklich nicht, räumt auch Gaal ein. Der einstige Kommunist, der an der Akademie der KPdSU in Moskau eine Eliteausbildung erhalten hatte, fand sich in der neuen Heimat schnell in jener Rolle wieder, die ihm seit jeher so zusagte. „Ich war immer schon ein Organisator, ein Anführer“, sagt Gaal, der im Februar 1995 nach Neuallermöhe-West kam. Er sah die Missstände im neuen Viertel, wurde aktiv und begann, Fußballspiele zwischen den Wohnunterkünften zu organisieren.

„Am Parkplatz an der S-Bahn-Station Allermöhe sammelten sich immer 80 bis 100 Jugendliche“, erzählt er. „Sie hinterließen Dosen, Wodkaflaschen, Utensilien für Drogen. Es waren viele Neuankömmlinge, es gab viel Kriminalität. Alles stand auf dem Kopf. Ich habe versucht, Ordnung reinzubringen, habe Fußballspiele zwischen den Wohnunterkünften organisiert.“

Trutzburg der Russlanddeutschen

Zwei Jahre später gründete er den BFSV Atlantik 97. „Atlantik – das versteht man in allen Sprachen, in Englisch, Deutsch, Russisch. Das ist ein internationaler Name“, sagt Gaal, der bald auch vom Internationalen Bund als Straßensozialarbeiter beschäftigt wurde.

Heute wirkt seine damalige Namenswahl wie eine Vision, finden sich doch jetzt in den Atlantik-Teams so viele Kinder mit türkischen, arabischen, südeuropäischen oder afrikanischen Wurzeln. Damals jedoch erschien der Verein wie eine Trutzburg der Russlanddeutschen, die gern unter sich bleiben wollten. Es gab noch einige Polen, aber die überragende Anzahl der Mitglieder kam aus einer ehemaligen Sowjetrepublik.

Atlantik hatte in den ersten Jahren nach der Gründung im Hamburger Fußball einen zweifelhaften Ruf. Der Klub aus „Klein-Moskau“, wie der von Wohnblocks geprägte Stadtteil noch heute hin und wieder von Hamburgern genannt wird, war wegen einer rustikalen Spielweise bei den Gegnern gefürchtet. Exemplarisch hierfür war die Eigenart des damaligen Torhüters Eduard Wormsbecher, den Gegenspielern mit ausgestrecktem Bein und einem eindringlichen „Jaaa“ (zu Deutsch: „Ich“) entgegenzuspringen.

Wormsbecher sah dafür öfters die rote Karte. Und 2001 löste der Verein ein aus Tsche­tschenen bestehendes Team auf, nachdem es mit einer türkischen Mannschaft zu einer Schlägerei gekommen war. Heutzutage sei alles ganz entspannt, betonen Rommel und Gaal unisono.„Das stimmt“, bestätigt Carsten Byernetzki vom Hamburger Fußball-Verband (HFV) in einem Telefonat. „Bei Atlantik ist seit langer Zeit alles ruhig“, sagt der Pressesprecher.

Zwei Tage später, Sportplatz 2000. Gaal geht in die Hocke. Als Trainer der G-Jugend gehört das Binden der kleinen Fußballschuhe auch zu seinen Aufgaben. Er holt die Jungs zusammen, ruft mit russischem Akzent in die Runde: „Wer sind wir?“ Und in hellen Stimmen kommt zigfach zurück: „Atlantik!“

Fast nur noch Deutsch

Anders als vor einigen Jahren sitzen nun auch dunkelhäutige Jungs im Mannschaftskreis. Der Stadtteil hat sich verändert. Inzwischen leben viele Familien mit afrikanischen, asiatischen und arabischen Wurzeln im Viertel. Hinzu kommt, dass die jüngste Generation der Russlanddeutschen durch den Aufenthalt in Kindergarten und Schule Deutsch als Hauptsprache begreift. „Früher wurde im Verein fast nur Russisch gesprochen“, sagt Gaal, „jetzt fast nur Deutsch, in der Jugendarbeit fast zu 100 Prozent.“

Als „Russenverein“ sehen auch die C-Jugendlichen Uday Popat und Vansh Kanna ihren BFSV Atlantik 97 keinesfalls an. Die beiden Zwölfjährigen haben indische Vorfahren. „Das hier ist ein sehr internationaler Klub. Russisch wird bei uns auf dem Platz nicht gesprochen“, sagt Vansh. Und Uday ergänzt: „Von den gegnerischen Teams gab es mal Sprüche. Die waren nach einer Niederlage beleidigt, haben uns Russen und Wodka-Trinker genannt.“

Alexander Gaal jedenfalls blickt mit einem Lächeln in die Zukunft des BFSV Atlantik 97: „In zehn Jahren wird der Verein noch größer werden, durch den geplanten Stadtteil Oberbillwerder kommen viele Leute hinzu. Das Leben ändert sich.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen