Chile stellt Colonia Dignidad kalt

Ein Konkursverwalter übernimmt die Regie über sieben Firmen der deutschen Sektensiedlung. Seit 1991 kamen Millionenbeträge abhanden. Eine Ermittlungsrichterin fahndet nach verschwundenen Menschen

PORTO ALEGRE taz ■ Sie kamen mit Panzerwagen, einem Wasserwerfer und einem Polizeihubschrauber: Am Freitag stellten die chilenischen Behörden die frühere Sektensiedlung Colonia Dignidad unter Zwangsverwaltung. Die Richterin Ximena Pérez aus der Provinzhauptstadt Parral übertrug einem Konkursverwalter die Regie über die sieben Firmen, die seit der Auflösung der „Wohlfahrtsgesellschaft Colonia Dignidad“ 1991 die Geschäfte der Siedlung weiterbetrieben.

Die Unternehmen dienten der Vermarktung von Lebensmitteln, Getreide oder Holz, aber wohl auch der Geldwäsche und anderen Straftaten. Seit 1991 verschwanden Millionenbeträge. Pérez ermittelt wegen der Bildung einer illegalen Vereinigung, Steuerhinterziehung und Zwangsarbeit.

Die Maßnahme bedeute das Ende der 400 Kilometer südlich von Santiago gelegenen Siedlung als „Staat im Staate“, sagte Clara Szczaranski, die Vorsitzende des chilenischen Staatsverteidigungsrats. Mit der Beschlagnahme des Geländes erlange Chile die Kontrolle über die Siedlung zurück: „Die einfachen Leute werden von einem unterdrückerischen System befreit.“ Die Zwangsherrschaft, die Sektengründer Paul Schäfer ab 1961 in der 170 Quadratkilometer großen Siedlung errichtete, hatte bereits in den letzten Jahren Risse erhalten. 1997 tauchte Schäfer unter, im März 2005 wurde er in Argentinien festgenommen und nach Chile ausgeliefert.

Seither überschlagen sich die Ereignisse: Die Siedler öffneten sich gegenüber den Behörden und der Presse, seit Mai sitzen drei Komplizen des 85-jährigen Schäfer in Untersuchungshaft, und zuletzt wurden zwei Waffenlager ausgehoben. In der Siedlung, die heute „Villa Baviera“ heißt, wohnen derzeit weniger als 200 Kolonisten, viele von ihnen im Rentenalter. Immer mehr Familien ziehen weg.

Für Efraín Vedder ist die jüngste Maßnahme ein Grund zum Jubeln. „Endlich kommt die Verwaltung in die richtigen Hände“, sagt der 38-Jährige, der vor drei Jahren der Siedlung den Rücken gekehrt hat. Bis zuletzt hätten die Geschäftsführer der Firmen gut verdient. Die Arbeiter hätten nur ein Taschengeld erhalten. „Die Angestellten hätten nichts zu befürchten, hat man uns versichert“, so Helmut Baar (51), der im kolonieeigenen Restaurant bei Bulnes als Kellner arbeitet. Doch die Unruhe ist dem Kolonisten der ersten Stunde anzumerken: „Jetzt müssen wir abwarten, wie es weitergeht – ich habe gemischte Gefühle.“

Koloniesprecher Hernán Escobar hingegen bezeichnete gegenüber der taz das Vorgehen der Behörden als „Willkürmaßnahme“ und kündigte Einspruch an. Doch der dürfte kaum Erfolg haben. Denn der Rückhalt, den die Colonia Dignidad jahrzehntelang genießen konnte, schwindet immer mehr. Am meisten politischen Zündstoff bergen die Ermittlungen wegen Menschenrechtsverletzungen während der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990). Derzeit werden 40.000 Dateien ausgewertet, die die Polizei vor Monaten sichergestellt hatte. Die säuberlich mit Schreibmaschine ausgefüllten Karteikärtchen enthalten Informationen über Politiker, Unternehmer und mindestens sechs politische Gefangene, die möglicherweise in der Siedlung gefoltert und umgebracht wurden. Vor kurzem sagten Kolonisten aus, in den 70er-Jahren habe der chilenische Geheimdienst auf dem Gelände mindestens 30 Menschen ermordet. In Kürze will Untersuchungsrichter Jorge Zepeda die Suche nach den Überresten der „Verschwundenen“ aufnehmen. Schäfer schließlich soll in wenigen Wochen der Prozess gemacht werden, zunächst wegen sexuellen Missbrauchs in 26 und Vergewaltigung in fünf Fällen. GERHARD DILGER