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Die Deutungshoheit beanspruchen

Felix Bohr beschreibt die Jahrzehnte währende Kampagne zur Freilassung von verurteilten Naziverbrechern imwestlichen Ausland

Was den Deutschen so am Herzen lag Foto: Anefo/Nationaal Archief

Von Klaus Hillenbrand

Wir waren miteinander im Krieg, auch wenn die Italiener ein bisschen früher ausgeschieden sind. Dass dort unten einer, der ziemlich stark in sehr böse Sachen hineingeraten ist, immer noch bei seinem ehemaligen Verbündeten einsitzt, leuchtet mir nicht ein.“ Der Mann, der diese Worte im Mai 1973 äußerte, war kein Ewiggestriger, ja nicht einmal ein Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs. Es war Willy Brandt, damals Bundeskanzler der Bundesrepublik.

Mit seinem Satz setzte sich Brandt für Herbert Kappler ein. Der SS-Obersturmbannführer in Rom hatte 1944 den Befehl zu einem Blutbad gegeben. In den Ardeatinischen Höhlen ließ er 335 willkürlich ausgewählte Italiener erschießen, als Vergeltung für einen Partisanenüberfall. 1948 wurde „der Henker von Rom“ zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Wie aber kam ausgerechnet Brandt dazu, sich für einen NS-Verbrecher einzusetzen? Das ist eine von mehreren Fragen, mit denen sich Felix Bohr in seinem Buch „Die Kriegsverbrecherlobby“ auseinandersetzt. Darin geht es um die unablässigen und jahrzehntelangen Bemühungen, die letzten in ausländischer Haft einsitzenden deutschen NS-Täter freizubekommen. Es ist ein beschämendes westdeutsches Nachkriegskapitel, dem Bohr dabei gründlich auf die Spur kommt.

Denn es war ja nicht so, dass Brandt mit seiner Entlassungsforderung ein einsamer Rufer in der Wüste gewesen wäre – im Gegenteil. Der sozialdemokratische Kanzler reihte sich in eine lange Tradition ein. Um humanitäre Motive ging es dabei am allerwenigsten. Vielmehr war es das Ziel ihrer Protagonisten im Hintergrund, verurteilte Nazi-Täter in eine Reihe mit kriegsgefangenen Wehrmachtsoldaten zu stellen und so ihre Schuld zu relativieren.

Felix Bohr: „Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter“. Suhrkamp, Berlin 2018. 558 Seiten, 28 Euro

Das fing schon mit den Begrifflichkeiten an. Aus Kriegsverbrechern und Nazi-Tätern wurden zunächst „kriegsgefangene Deutsche im Westen“, bis sich bald darauf die Bezeichnung „Kriegsverurteilte“ durchsetzte – mehr als nur eine semantische Wortklauberei, entstand damit doch der Eindruck, dieser Personenkreis sei wegen allgemeiner Kriegshandlungen widerrechtlich verurteilt worden.

Die Zahl der Betroffenen war überschaubar. Ende der 1950er Jahre saßen nur noch fünf deutsche NS-Täter in westeuropäischen Ländern in Haft. Neben Kappler waren das vier Männer in den Niederlanden. Einer von ihnen, Joseph Kotalla, war KZ-Kommandant gewesen, die anderen hatten sich an der Ermordung von mehr als 100.000 holländischen Juden beteiligt. Sie waren also gar nicht aufgrund von Kriegshandlungen verurteilt worden.

Dabei verwundert es nicht, dass es gerade die Lobby von SS und NS-Tätern war, die sich von Beginn an für deren Freilassung starkmachten. Dazu zählte der „Verband der Heimkehrer“, der auch Angehörige der Waffen-SS und Polizisten vertrat, die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“, deren Unterstützung in erster Linie NS-Verbrechern galt, und die Hiag, ein Veteranenverband der Waffen-SS. Sie begründeten ein Netzwerk, das bis in die Spitzen des jungen Staates reichte – und stießen dabei auf viel Wohlwollen. Schließlich ging es Kanzler Konrad Adenauer darum, ehemalige Nationalsozialisten zu kooptieren, NS-affine Wählerstimmen einzufangen und zugleich einen „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit zu setzen. Und so sprach Bundespräsident Heinrich Lübke den „Fall Kappler“ 1965 bei einem Besuch seines italienischen Amtskollegen an, verfügte der Verband der Heimkehrer über einflussreiche Bundestagsabgeordnete und intervenierten deutsche Diplomaten immer wieder für die Freilassung der NS-Täter. Und es floss Geld – viel Geld.

Zudem bemühten sich die Kirchen um die Freilassung der „angeblichen Kriegsverbrecher“ (so eine Broschüre des evangelischen Hilfswerks). Auffällig dabei ist, dass es besonders Mitglieder der NS-kritischen Bekennenden Kirche waren, die ihr Herz für die Gefangenen entdeckten, darunter auch Martin Niemöller, und ein Aufheben der „Unrechtsurteile“ verlangten. Bohr bezweifelt, dass es dabei nur um Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Vergebung ging.

Ziel war, verurteilte Nazi-Täter in eine Reihe mit kriegs­gefangenen Wehrmacht­soldaten zu stellen und so ihre Schuld zu relativieren

Willy Brandt bleibt unverdächtig, ein heimlicher Nazi-Freund gewesen zu sein. Bohr attestiert dem Kanzler andere Motive. In der SPD kollidierte Brandts Wunsch nach Versöhnung mit dem Widerstand im Parteiapparat, sich für die früheren eigenen Unterdrücker einzusetzen. Doch auch die Sozialdemokraten bemühten sich um die Stimmen früherer Nationalsozialisten und auch sie traten bei revanchistischen Tagungen als Redner auf – auch ein Versuch, sich vom Ruch des vaterlandslosen Gesellen zu befreien. „Man kann nicht ein total zerstörtes Land materiell wieder aufbauen, ein halbwegs geordnetes Staatswesen entstehen lassen in der Hoffnung, dass sich daraus ein Partner der anderen Völker entwickle, und gleichzeitig das Volk in seiner Schuld und Mitverantwortung eingraben“, zitiert Bohr Willy Brandt.

Die Versuche, die letzten inhaftierten NS-Täter im Ausland freizubekommen, gingen nach Brandts Rücktritt weiter. Sie wurden verfolgt von Helmut Schmidt wie Helmut Kohl, Genscher und Weizsäcker. Kappler gelang 1977 die Flucht, Kotalla starb. Schließlich gewährten die Niederlande den letzten NS-Tätern 1989 die Freiheit. Ein Kapitel Nachkriegsgeschichte war abgeschlossen.

Bohr ist ein glänzendes Buch darüber gelungen, wie es Rechtsextreme erreicht haben, Politik für sich zu instrumentalisieren und zugleich die Deutungshoheit über die Geschichte zu beanspruchen. Angesichts der derzeitigen Versuche, die NS-Zeit als einen „Fliegenschiss“ umzudeuten, ist sein Buch aktueller, als uns lieb sein kann.

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