Tatort Birnenfeld

Aufregendes Georgien: aktuelle Romane, eine literarische Reise sowie die Erinnerung an die letzten Tage des Gulag

Blick auf Tiflis, die Hauptstadt und Metropole Georgiens Foto: Peter Dammann/Agentur Focus

Eine Anthologie deutscher und georgischer Autoren: „Heiliges Dunkel“ von Lewan Berdsenischwili

Von Andreas Fanizadeh

Vor der Frankfurter Buchmesse hatten einige Autor*innen aus Deutschland Gelegenheit, Georgien zu bereisen. Die Frankfurter Verlagsanstalt, in der auch die Romane von Nino Haratischwili und vieler georgischer Autor*innen erscheinen, hat nun deren Reiseeindrücke in der Anthologie„Georgien – eine literarische Reise“(192 Seiten, 25 Euro) veröffentlicht. Mit dabei Lucy Fricke, Ulla Lenze, Volker Schmidt, Fatma Aydemir, Stephan Reich, Kadja Pe­trow­skaja und von georgischer Seite Archil Kikodze, Tamta Melaschwili, Imra Tawelidse, Nestan Nene Kwinikadse, Anna Kordsaia-Samadaschwili und Abo Iaschaghaschwili.

Der mit Collagen und Zeichnungen von Julia B. Nowikowa schön illustrierte Band ermöglicht eine erste Annäherung an das südkaukasische Land, das bereits zu Sowjetzeiten als Méditerranée des Ostens galt. Die in Deutschland lebende Harataschwili erzählt in der Einleitung mit dezenter Selbstironie, wie sie bei einer Reise zurück in ihre alte Heimat der Freundin den Exotismus austreiben wollte und beim Spaziergang durch Tiflis auf schwer korrekte Wissensvermittlung aus war. „Ich stritt und diskutierte mit ihr über die westliche Sehnsucht nach dem Zerfall“, so Harataschwili, „die Begeisterung der Europäer über die vermeintlich ‚ostalgischen‘ Gegenstände und Möbel“. Doch, so die spätere Erkenntnis, „indem ich ihren Blick versuchte zu formen, veränderte sich meiner“.

Umgekehrt erzählt die deutsche Autorin Fricke in dem Band, wie sie durch die georgische Provinz Tuchetien reist und lernt, dass man auf einem Pferd nicht rauchen sollte. Schriftstellerin Lenze beschreibt den Widerspruch, von alter kirchlicher Kultur in der Landschaft Kachetiens fasziniert zu sein, obwohl die orthodoxe Kirche Geor­giens allgemein als homophober Hort der Reaktion gilt. Und auch Autorin Fatma Aydemir wählt die Mittellage. Sie lässt eines von zwei Bieren zurückgehen, nachdem ihr erklärt wird: „Wenn Männergruppen unterwegs sind, geben sie immer ein paar aus, um mit den Frauen ins Gespräch zu kommen.“

Postsowjetischen Sarkasmus, Dissidenz und Historizität der georgischen Gesellschaft versteht man vielleicht am besten, so man ein Buch wie Lewan Berdsenischwilis „Heiliges Dunkel. Die letzten Tage des Gulag“ liest (Mitteldeutscher Verlag, 264 Seiten, 25 Euro). Mit Galgenhumor erzählt Berdsenischwili von den Menschen, die er im sowjetischen Gulag traf. Die wie er wegen despotischer Anschuldigungen noch in den 1980ern in den Lagern verschwanden.

All den seltsamen Typen setzt er mit seinem authentischen Werk ein Denkmal: „Ich behaupte sogar, dass Georgi Chomisure auf den größten Führer aller Zeiten und Völker, den Generalissimus und Führer des internationalen Proletariats sehr viel allergischer reagierte als auf Hühnereier.“

Eine Grabung entlang verschütteter Ereignisse und Geschichten: Archil Kikodzes Roman „Der Südelefant“

Von Doris Akrap

Das Einzige, was noch an seinen besten Freund Tazo erinnert, ist das Schwarz-Weiß-Foto, auf dem die beiden 10-Jährigen Jungs vor einem prähistorischen Elefantenskelett stehen. Aufgenommen wurde es von Tazos Vater im Hof des Staatlichen Museums von Tiflis, in dem die Eltern der beiden Freunde arbeiteten. Nach Jahren des Schweigens taucht Tazo eines Tages wieder auf und bittet den ehemals besten Freund, ihm seine Wohnung für einen Tag zu überlassen. Der alte Freund erlaubt ihm das und tritt vor die Tür. Da er nichts zu tun hat, streift er ohne Ziel durch die Stadt.

Dabei begegnet er in den Parks, Cafés, Treppenhäusern, auf Bürgersteigen oder am Flussufer unfreiwillig seiner Geschichte. Ständig löst irgendwas oder irgendwer Erinnerungen aus, die lange verschwunden waren. Es sind unangenehme Erinnerungen an große Lieben und Verluste, und es sind die Erinnerungen an die Geschichte des sowjetischen Georgien und des georgischen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren.

Da ist beispielsweise das Haus, in dem der sowjetische Geheimdienstchef Berija einen georgischen Schriftsteller folterte. Man muss allerdings schon wissen, was sich in diesem Haus zugetragen hat, denn es gibt kein Hinweisschild, das auf diese Geschichte hindeutet. Auch der Anblick der Strommasten reicht nicht, um sich zu erinnern, dass die Geschichten von den kleinkriminellen Stromdieben nur verdecken, dass der ganze Staat sich auf Kosten der eigenen Bürger als Stromschmuggler betätigte.

Archil Kikodzes Roman „Der Südelefant“, im Original 2017 in Georgien erschienen, ist kein hübscher Flanierspaziergang, der uns die Reize der Schönheit von Tiflis zeigt. Der Roman ist eine archäologische Grabung. Wie ein Altertumsforscher auf der Suche nach tieferen Schichten seines Lebens, der Stadt und der Gesellschaft gräbt sich der Erzähler durch verschüttete Ereignisse. Beide Freunde im Roman tragen die unaufgearbeitete und schmerzende Verantwortung für einen Toten.

„Ein Stein kann auch eine gütige Waffe in einem ungerechten Kampf sein. Die Menschheit ist schön, wenn sie einen Panzer mit Steinen bewirft, und hässlich – wenn sie mit Schaum vorm Mund mit demselben Stein auf einen Wehrlosen einschlägt. Dabei ist es durchaus denkbar, dass derselbe Mensch beide Taten verübt“, schreibt Kikodze. Der für seine Romane und Erzählungen vielfach ausgezeichnete Autor zeigt in dieser Erzählung beeindruckend dicht und intensiv die für postsowjetische Staaten so typische engste Verbindung zwischen politischer und persönlicher Schuld, Verantwortungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit, die zum gnadenlosen Verdrängen der eigenen Geschichte führt.

Kikodze, einer der bekanntesten Tifliser Autoren, arbeitet auch als Fotograf, als Bergführer im Kaukasus und als Stadtführer in Tiflis – und ist auch als solcher sehr zu empfehlen.

Archil Kikodze: „Der Südelefant“. Aus dem Georgischen von Nino Haratischwili und Martin Büttner. Ullstein, Berlin 2018, 272 Seiten, 22 Euro

Nana Ekvtimishvilis Roman „Das Birnenfeld“: starke Persönlichkeiten in einem georgischen Kinderheim

Von Eva-Christina Meier

In der von sozialistischen Einheitsbauten gesäumten Kertsch-Straße am Rand der georgischen Hauptstadt kennt man das benachbarte Internat nur als „Debilenschule“. In knapper, sehr bildhafter Sprache erzählt die in Tiflis aufgewachsene Autorin und Filmemacherin Nana Ekvti­mish­vili in „Das Birnenfeld“ von dem Leben an diesem abseitigen Ort.

Denn für die benachteiligten Schüler der Anstalt fühlt sich nach dem Ende der Sowjetrepublik, Mitte der neunziger Jahre niemand zuständig.

Wie die meisten der Kinder dort weiß auch Lela nicht, wie sie in das Heim kam und wer ihre Mutter ist. Inzwischen ist sie die älteste und stärkste der Bewohner.

Nun hat die Achtzehnjährige die Stelle des Parkplatzwächters an der Schule übernommen. Mit burschikoser Fürsorge kümmert sie sich besonders um den neunjährigen Irakli. Der leidet unter der Trennung von seiner Mutter, die ihn am Telefon immer nur vertröstet und irgendwann ohne Abschied nach Griechenland verschwindet.

Für Lela kommen und ­gehen die Bewohner des Internats. Über einige der ehemaligen Heimkinder kursieren heldenhafte Geschichten, andere sollen beim Betteln am Bahnhof gesehen worden sein. Als der kleine Sergo für die Internatsdirektorin Zizo mit einem Kleid zur Kioskbesitzerin rennt, wird er auf der Straße von einem Auto überfahren.Der Fahrer kommt für die Beerdigung des Jungen auf, und eine Nachbarin kommentiert das anerkennend: „Ein anderer hätte sich nicht mal nach ihm erkundigt“.

Aus Lelas Perspektive und mit deren stoischer Haltung verfolgt Ekvtimishvili in ihrem Romandebüt die Ereignisse auf dem Internatsgelände zwischen Badehaus, Hauptgebäude und den Wohnblöcken der Nachbarschaft. Erwachsene scheinen in der Welt der Heimkinder keine tragende Rolle zu spielen.

Und umgekehrt nimmt die Außenwelt wenig Notiz von ihnen. So sind sie weitgehend sich selbst überlassen und handeln nach ihren eigenen, erprobten Gesetzen.

Nur Lelas unbändige Wut kontrastiert gleich zu Beginn der Handlung den eingespielt wirkenden Internatsalltag: „Ich töte Wano.“ Obwohl die Autorin die Hintergründe für den Plan erst im Verlauf der Erzählung durch kurze Rückblenden offen legt, öffnet Lelas Mordfantasie sehr bald den Blick auf ein System aus Gewalt und Erniedrigung, das die abgeschobenen Kinder als Normalität kennengelernt haben. Dieser Realität begegnen sie mit Brutalität genauso wie mit Mitgefühl.

Nana Ekvtimishvili: „Das Birnenfeld“. Aus dem Georgischen von Juliane
 Deng und Ekaterine Teti. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 221 Seiten,
 16,95 Euro