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Der Weg zum guten Buch zur abendlichen Stunde

Wer Lesen mit Wellness verwechselt, sollte lieber gleich in die Badewanne gehen. Allen anderen sei geraten: Bildet Lesekreise!

Wer eine Lesegruppe gründet, gibt seinem Leben ein Stück weit ein Gerüst

Der Lesekreis traf sich alle 14 Tage immer sonntags um 20 Uhr. Mal saß ein knappes, mal ein gutes Dutzend Leute um einen Tisch, auf dem standen Wasser, Wein, Nüsse und auch noch Aschenbecher. Ein paar Minuten Vorgeplänkel zur Begrüßung, und so um Viertel nach ging’s recht zuverlässig los.

Diese Lesegruppe begleitete mich durch die nuller Jahre und noch ein Stück weit in die zehner Jahre hinein. Wir lasen philosophische Bücher, meist Klassiker, manchmal Abgelegenes, nur selten Gegenwart; es war toll. Ich muss an diese Gruppe immer wieder denken – und spätestens dann, wenn ich mal wieder auf Marketingkampagnen fürs Bücherkaufen stoße, in denen das Lesen als Wellness oder Entspannung oder als konzentriertes Abschalten in einer hektischen digitalen Welt verkauft werden soll. In Wirklichkeit, so glaube ich, machen solche Kampagnen eher Lust auf Netflix als aufs Lesen. Lesen ist jedenfalls etwas anderes als Wellness. Es ist Austausch, Dialog. Es geht darum, ein anderes Bewusstsein, andere Wahrnehmungen, andere Horizonte, andere Denkmöglichkeiten kennenzulernen. Und zum Entspannen gehe ich, wie viele andere Menschen auch, sowieso lieber in die Badewanne.

Ob Lesegruppen die Verlage retten können, weiß ich nicht. Aber wer eine Lesegruppe gründet, vertieft, wenn alles glückt, seine Leseerfahrungen und gibt seinem Leben ein Stück weit ein Gerüst. Was Lesen sein kann, das habe ich dort immer wieder neu erfahren. Der Lesekreis zeigte mir, dass der Austausch wichtig ist und dass es für das Verständnis eines Buchs oft viel bringt, wenn man schwierige Stellen laut vorliest; wenn der Satz überhaupt nicht klingen will, dann war meistens der Gedanke dahinter schief. Tocquevilles „Demokratie in Amerika“ haben wir gelesen, Roland Barthes, Hegels Rechtsphilosophie, William James, Michael Fried, Luhmanns „Politik der Gesellschaft“ und vieles mehr – Bücher, die man sich immer mal vornahm, allein aber in Wirklichkeit nie angegangen wäre.

Etwa zwei Stunden wurde bei uns recht konzentriert am Text entlang gelesen, interessante Stellen wurden diskutiert, so 20 bis 30 Seiten waren das Pensum. Danach saß man noch gesellig eine halbe Stunde zusammen, tauschte sich über neue Kinofilme aus, auch über neue Fernsehserien, manchmal über Politik. Dann ging man wieder auseinander – und hatte immer was gelernt.

Wenn man das Glück hat, Mitglied einer produktiven und inspirierenden Lesegruppen zu sein, bekommt man auch einen entspannteren Blick auf das kursierende Krisengerede rund um das Lesen. Immerhin ist man sich doch ziemlich sicher, dass es immer noch ein nächstes interessantes Buch für die Lesegruppe geben wird.

Die Schwierigkeit bei Lesegruppen sind aber auch gar nicht die Bücher, es ist die Gruppe. Das Zusammenspiel muss funktionieren. Es sollten Menschen dabei sein, die forsch mit Behauptungen über das Gelesene nach vorne preschen, und manche, die diese sanft wieder einfangen. Manche sollten genau auf den Text achten, andere aber sollten sich von ihm lösen und Perspektiven eröffnen können. Gegenseitig sollte man sich in seinen jeweiligen Vorlieben gewähren lassen können, und man sollte neugierig sein auf das jeweils zu lesende Buch.

Während meines Studiums haben wir uns in einer Foucault-Lesegruppe mal ein halbes Jahr lang in den ersten 30 Seiten der „Ordnung der Dinge“ furchtbar verhakt. So etwas bringt in einer erwachsenen Lesegruppe nicht mehr so viel Spaß.

Bei der Auswahl der Bücher gab es bei uns nur eine Regel: keine Sekundärliteratur, immer hin zu den einschlägigen Ausgaben selbst. Damit sind wir gut gefahren. Kürzlich habe ich auch von einer ganz anderen Lesegruppe gehört. Jeder aus der Gruppe stellt eine literarische Neuerscheinung vor, sodass alle Hinweise darauf bekommen, welchen Roman sie als nächsten lesen könnten. Das klingt auch gut, finde ich. Dirk Knipphals

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