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Die Banalität der eigenen Existenz

Nur das Leben abbilden: Die Akademie der Künste erinnert in einem dreitägigen Spezialprogramm an den großen Theaterregisseur Jürgen Gosch (1943–2009). Seine Inszenierungen werden nach wie vor gespielt

Von Katja Kollmann

Heute und morgen treffen sich in der Akademie der Künste viele, die durch die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Jürgen Gosch geprägt wurden. In vier Gesprächsrunden erinnern sich Weggefährten wie der Bühnenbildner Johannes Schütz, der Dramatiker Roland Schimmelpfennig und unzählige SchauspielerInnen an ihn. Vor neun Jahren starb Jürgen Gosch. Zwei seiner Inszenierungen sind heute noch im Deutschen Theater auf dem Spielplan: „Die Möwe“ und „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow.

Seit über zehn Jahren verkörpert Ulrich Matthes den tief unglücklichen, an seiner Midlife-Crisis zerbrechenden Onkel Wanja. Meike Droste spielt Onkel Wanjas verhärmte, pflichtbewusste Nichte mit den großen Gefühlen für den Umweltaktivisten Astrow. In „Die Möwe“ wiederum ist sie Mascha, die von ihrem öden Provinzleben an der Seite des sterbenslangweiligen Lehrers Medwedenko so angeekelt ist, dass sie trinken muss. Christian Grashof gibt Onkel Wanjas Widerpart, dem eitlen, egozentrischen Schwager Serebrjakow Kontur, und ist in „Die Möwe“ der alte, nicht durchsetzungsfähige Sorin, der die häusliche Diktatur seiner von Eitelkeit zerfressenen Schwester ertragen muss.

Im Dokumentarfilm „Gosch“, der nun das erste Mal gezeigt wird, geht es um die drei letzten Regiearbeiten des Regisseurs. Grete Jentzen und Jens Barthel haben die Proben der Tschechow-Inszenierungen sowie von „Idomeneus“ von Roland Schimmelpfennig im Deutschen Theater mit der Kamera begleitet. Anhand von unveröffentlichtem Material und Interviews mit dem Ensemble eröffnen sich interessante Einblicke in die Probenprozesse. DT-Schauspieler Marcel Kohler, Jahrgang 1991, bringt das Theaterprojekt „Ödipus Variationen – nach Motiven von Sophokles/Hölderlin/Gosch“ auf die Bühne der AdK. Kohler nimmt dabei explizit Bezug auf die legendäre Kölner Inszenierung von Jürgen Gosch mit Ulrich Wildgruber und Elisabeth Schwarz. Helmut Schödel schrieb am 16. März 1984 in der Zeit über „Ödipus“: „Das Gespräch zur Lage Thebens klingt aus Ödipus’ Mund wie der Beginn einer politischen Massenveranstaltung.

Nur sind die Massen gar nicht da … Großartig ist zu hören, wie Ulrich Wildgruber den Ödipus spricht, aber man kann ihn nicht sehen. Vor dem Gesicht hat er eine Maske, doppelt so groß wie sein Kopf. Sein Leib ist in ein weißes Laken geschnürt. Statt von Schauspielern müsste man angesichts dieser Inszenierung von Masken berichten.“ Marcel Kohlers Theaterarbeit untersucht nun Goschs Arbeitsweisen und möchte so in einen Dialog mit der originären Inszenierung treten.

Sein Theater öffnet einen Raum, den man lieber verschlossen sähe

Jürgen Gosch wurde nur 65 Jahre alt. Von 1968 bis 1978 inszenierte er am Theater Potsdam und an der Volksbühne. Nachdem dort seine „Leonce und Lena“-Inszenierung abgesetzt wurde, siedelte er in die BRD über. Mit „Ödipus“ gelang ihm im Westen der Durchbruch. Seine erste Macbeth-Inszenierung als Intendant der Schaubühne wurde 1989 vom Publikum abgelehnt. Seine zweite Macbeth-Inszenierung 2005 am Schauspielhaus Düsseldorf brachte Gosch den Titel „Regisseur des Jahres“ der deutschsprachigen Kritikerzunft ein und eine Einladung zum Theatertreffen.

Nach der Premiere von „Die Möwe“ sagte Gosch: „Wenn die Schauspieler etwas spielen, ist die Verpflichtung ungeheuer groß: nur das Leben abzubilden. Sie sollen spielen aus dem Gefühl, dass man nur einmal die Chance hat, das zu tun, was im nächsten Augenblick ansteht.“ Und so blickt Ulrich Matthes’ Onkel Wanja in der Schlussszene lange in den Zuschauerraum, während Meike Droste als Sonja die berühmten Schlussworte spricht: „Und wir werden leben, Onkel Wanja, eine lange, lange Reihen von Tagen, geduldig werden wir die Prüfungen ertragen, die uns das Schicksal sendet.“ Wenn man jetzt den Mut hat, in Ulrich Matthes’ Augen zu blicken, sieht man darin die unendliche Verzweiflung Wanjas, der in der Mitte seines Lebens steht, in seine Zukunft blickt, aber nur Ödnis und Gleichförmigkeit sieht.

Ihrer im visuell-sinnlichen Prozess gewonnenen Erkenntnis kann man sich nicht entziehen. Sie trifft direkt, wirft ­einen brutal auf sich selbst zurück und zwingt zu einer schonungslosen Perspektive in Bezug auf die existenzielle Banalität des eigenen Lebens. Goschs Theater überwindet hier jegliche Distanz und öffnet einen Raum, den man lieber verschlossen halten würde. Aber es ist zu spät. Der Prozess der Bewusstwerdung hat schon begonnen.

28. bis 30. September, AdK

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