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Noch ein Zimmer in Paris

Heimisch geworden: Nach Ausflügen in die Welt der Chansons und Texte in Mundart entdeckt die Schweizer Diplomatentochter Sophie Hunger auf ihrem neuen Album „Molecules“ das Berlin der elektronischen Tanzmusik

Sophie Hunger in ihrer Zelle Foto: Marikel Lahana

Von Thomas Winkler

Sophie Hunger ist Schweizerin. Man muss das erwähnen: Émilie Jeanne-Sophie Welti, Künstlername Sophie Hunger, besitzt einen Reisepass der Eidgenossenschaft. Ansonsten könnte das in Vergessenheit geraten. Es ist so, dass Hunger schon seit Längerem nicht nur in ihrem Heimatland eine überaus geschätzte Musikerin ist, sondern gerade seit Allerneuestem, gerade anlässlich ihres eben erschienenen Albums „Molecules“ muss man konstatieren, inzwischen auch rund um die Welt.

Auf „Molecules“ singt Hunger weder französisch noch deutsch noch schwyzerdütsch, sondern ausschließlich englisch. Und nicht nur das: Noch deutlicher ist der musikalische Wandel. Verschwunden ist der üppige Folk-Rock mit Jazz-Ausflügen und Chanson-Atmosphäre. Stattdessen: düstere Elektronik und pumpende Beats. Sophie Hunger, der Popstar aus der Schweiz, ist nach vier Jahren in Berlin endgültig heimisch geworden.

Eher ins Theater

Es ist zwar nicht eben so, erzählt die mittlerweile 35-jährige Musikerin im Gespräch, dass sie jede Nacht durch einschlägige Clubs ziehen würde. Sie geht eher in eins der Berliner Theater. Aber doch, sie geht auch tanzen, sie war schon im Berghain, und nicht nur einmal, und es war eine eindrucksvolle Erfahrung – selbst für eine weltgewandte Diplomatentochter, die viel von der Welt gesehen hat, in London und Bonn aufgewachsen ist und noch ein Zimmer in Paris hat. Dabei sei die Atmosphäre, so ohne Aggression und alle Hierarchien, sagt sie, noch beeindruckender als das „weiche Bersten“, wie sie es nennt, des berühmten Raumklangs in der Haupthalle des Berghain, der die Zuhörer zum „physikalischen Phänomen“ reduziert. In gewisser Weise sei „Mole­cules“ ein Berliner Album, auch wenn es weitgehend in London aufgenommen wurde. Denn Berlin sei, sagt Hunger, trotz des kreativen Zuzugs, obwohl immer mehr Künstler in die Stadt kommen, immer noch keine Stadt, von der aus man Karriere machen könnte in der großen, weiten Pop-Welt. Und dann erzählt sie, wie in London Gespräche unter Kollegen ablaufen, dass der eine gerade von der Aufnahme mit jenem Star kommt, der andere auf dem Weg zur Fernsehaufzeichnung ist und der dritte demnächst mit XY neues Material schreibt. In Berlin sei die Stimmung eine ganz andere: „Hier trifft man Musiker eher beim Fußballspielen im Park, hier spricht man nicht unbedingt über Projekte.“

Genau das, dass Berlin sich noch nicht dem Turbokapitalismus ergeben habe, mache eben auch die Faszination der Stadt aus. Noch sei Berlin der Gegenentwurf, eine Utopie für die vom allseits tobenden Turbokapitalismus Erschöpften, freigeistig und anarchisch, ein „Bollwerk für einen anderen Lebensentwurf“. Deshalb, hat Hunger bei ihren vielen Reisen beobachtet, leuchten die Augen der Menschen immer noch auf, wenn man erzählt, dass man aus Berlin komme. Ein Berlin, das diesen Menschen immer noch ein nachgerade magisches Versprechen, eine Verheißung ist – zumindest jenes Berlin, das Hunger in dem Song „Electropolis“ porträtiert. Dort singt sie auch einige der nur nicht sehr wenigen Zeilen auf Deutsch: „In deinen Sünden Trost zu finden/ Berlin, du deutsches Zauberwort.“

Ob Hunger mit „Molecules“ diese Faszination eingefangen hat, überhaupt einfangen wollte? Eher weniger, denn in erster Linie ging es ihr mit dem Album um etwas anderes: „Ich war neugierig zu sehen, was passiert, wenn ich etwas mache, was atypisch für mich ist. Ich fand es lustig, mich selbst im Stich zu lassen.“

Hinter sich lassen wollte Hunger das, was die französische Zeitung Libération einmal „das bestgehütete Geheimnis der Schweiz“ genannt hat und Die Zeit „das naive Genie“. Um solch einengendes Wohlwollen loszuwerden, muss man schon radikal werden. „Ich wollte mir ein Gefängnis bauen“, sagt Hunger, „ganz spartanisch und streng. Ich benutzte nur Drum-Computer, Synthesizer und ein bisschen akustische Gitarre. Ich sang nur in Englisch, und ich habe alles in einem einzigen Raum aufgenommen.“ Eine Zelle, in der es ihr dann aber überraschend gut gefiel: „Und plötzlich hatte ich viel mehr Raum in der Musik für meine Stimme.“

Anders als in London trifft man in Berlin Musiker eher beim Fußballspielen im Park“

Sophie Hunger

Diese Räume, die Hunger nun mit ihrer Stimme besetzt, sind gewaltig. Die große Veränderung aber ist, dass diese Stimme, immer noch engelsgleich und romantisch, nun nicht mehr in zarter Umarmung liegt mit ihrer musikalischen Umgebung, sondern im Zwiespalt – und das, obwohl – oder gerade weil – Hunger für die Aufnahmen ihre Band beurlaubt hatte und nahezu alles im Alleingang eingespielt hat. Im selbst errichteten Gefängnis wurde es einsam: „So ein Monolog ist ganz schön psychopathisch.“ Tatsächlich: Je mehr Raum Hungers Stimme einnimmt zwischen den harschen, grauen Klötzen aus Elektronik, je mehr sie sich auflehnt gegen die sie umgebende Düsternis, desto unbehauster, einsamer wirkt sie. „Das nächste Album nehme ich wahrscheinlich wieder mit Band auf“, sagt Hunger. „Man muss auch mal wieder raus aus dem Gefängnis.“

Kleine Clubs

Die Band ist schon jetzt reaktiviert für die anstehende Tournee, bei der Hunger sechs Termine an sechs aufeinanderfolgenden Tagen in sechs verschiedenen Berliner Clubs spielen wird. Statt einmal in einer großen Halle aufzutreten, hat Hunger mit Heimathafen Neukölln, Kantine am Berghain, Kesselhaus, Columbia Theater, SO36 und Festsaal Kreuzberg mittlere und kleine Läden buchen lassen. Zum einen, weil so die Intimität erhalten bleibt. Zum anderen auch, weil ihr in ihrer Wahlheimat zwar nicht viel fehlt, aber doch eine lebendige Live-Kultur: „Elektronische Musik dominiert Berlin. Im Gegensatz dazu gibt es gar nicht so viele Live-Clubs, in denen man regelmäßig auftreten könnte, dass man als Band davon leben kann.“ Das, erinnert sich Hunger, wäre sogar in Zürich noch eher möglich gewesen. Zürich, das kaum, so glaubt sie, größer sei als Neukölln. Zürich, wo sie gelebt hat, bevor sie vor vier Jahren nach Berlin kam. Bevor es in Vergessenheit gerät: Sophie Hunger stammt aus der Schweiz.

Sophie Hunger: „Molecules“ (Caroline International/Universal)

Konzerte: 15. 9., 20 Uhr, Kesselhaus, 16. 9., 20 Uhr, Festsaal Kreuzberg, 17. 9., 20 Uhr, Heimathafen Neukölln, 18. 9., 20 Uhr, Columbia Theater, 19. 9., 20 Uhr, Kantine am Berghain, 20. 9. SO36 20 Uhr

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