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Archiv-Artikel

Wir sollen nur helfen

Immer deutlicher zeigt sich das Leitmotiv der schon fast abgewählten rot-grünen Regierung: Das Mitleid mit den geschundenen Politiker-Kreaturen könnte die letzten Reserven mobilisieren

VON STEFAN KUZMANY

„Ich kämpfe um jede Stimme, auch um meine eigene.“ Wie oft mag er das wohl schon gesagt haben? Wie oft wird er es noch sagen, nein, krächzen, auf Marktplätzen und Infoständen und TV-Talkshows? Wir hören Joschka Fischer, einen Mann, der augen- bzw. ohrenscheinlich alles gibt, der sich die Stimme ruiniert für die gerechte Sache seiner Partei. Hoffentlich nimmt er keinen dauerhaften Schaden, der Arme.

Krächzen und Kreislauf

Am vergangenen Mittwoch erwischte es den SPD-Chef Franz Müntefering. Wahlkampf in Homburg, Saarland, auf dem Marktplatz. Dann ein Schwächeanfall: „Entschuldigen Sie. Ich kann nicht weiter. Ich muss hier zur Seite treten.“ Sprach’s und sackte zusammen. Müntefering, er wohl noch mehr als Fischer, hat sich aufgerieben. Auch er ein Kämpfer bis zuletzt, ohne Rücksicht auf den Körper. Zum Glück: der Magen-Darm-Infekt ist wieder auskuriert, Müntefering wieder im Ring. Bewundernswert, wie der sich wieder aufrappelt. Immer wieder und weiter.

Es gibt nicht mehr viele Gründe, bei der kommenden Bundestagswahl für Rot-Grün zu stimmen. Das Regierungsprojekt hat sich selbst von der Macht verabschiedet und befindet sich im Zustand der Auflösung. Beide Koalitionsparteien konnten in den letzten Wochen nicht den gewünschten Umfragenzuwachs erreichen – und sie werden das, allen anders lautenden Beteuerungen zum Trotz, in den letzten Tagen vor der Wahl auch nicht mehr schaffen. Stimmen für Rot-Grün, so scheint es, sind für all jene, die gerne auf der Siegerseite stehen, verlorene Stimmen. Bei aller Sympathie für und Identifikation mit den Zielen Atomausstieg, Homoehe und Friedenspolitik – was nützt es schon, sich zur Wahlurne zu schleppen, wenn sowieso die anderen an die Macht kommen? Die rot-grünen Wahlkampfstrategen suchen fieberhaft nach einem Thema, das die Massen noch bewegen kann. Das die Stimmung herumreißt. In der allgemeinen Wahrnehmung gibt es dieses Thema nicht: Die Flut ging praktisch spurlos am Wahlkampf vorüber, ein Irankrieg der USA droht erst mal nicht und würde auch von Angela Merkel nicht mit Hurra unterstützt. Dennoch hat der rot-grüne Wahlkampf – unbewusst? – eine Wendung genommen, die trotz bzw. gerade wegen der hoffnungslosen Situation noch unverhofft Stimmen bringen könnte.

Erbarmet euch Fischers

Es sind dies die Stimmen der Barmherzigen, der Mitleidigen. Wer Angela Merkel in der „Berliner Runde“ des ZDF grinsen sah, als Joschka Fischer krächzte, wer dabei Wut und Schmerz empfand, der weiß, wovon hier die Rede ist. Man sah Clement mit leerem Blick auf sein Pult starren, man hörte Fischer um seine Artikulationsfähigkeit ringen. Und man wollte helfen. Man sieht wiederum Fischer im grünen Wahlwerbespot vor sich hin sinnieren: „Ich bin schuld.“ Man will ihm sagen: ist doch nicht so schlimm, ich wähl dich doch. Der Wissenschaft ist dieses Phänomen nicht unbekannt: Wie britische Forscher in der Wissenschaftszeitschrift Science beschrieben, aktiviert das Mitleid dieselben Gehirnregionen, die auch für das Schmerzempfinden zuständig sind. Je mehr Mitleid die Probanden empfanden, desto größer war auch die Aktivität ihres Schmerzzentrums. Und was liegt näher als das Bedürfnis, das eigene und das Leid des Beobachteten lindern zu wollen? Bei der Bundestagswahl kostet die Befriedigung dieses Bedürfnisses weder Geld noch Mühe: einfach das Kreuz an der richtigen Stelle machen und Fischer schaut nicht mehr ganz so zerknautscht aus der Wäsche, und auch Müntefering wird ganz schnell gesund.

Ist nicht die gesamte rot-grüne Politik geprägt von diesem Mitleiden, vom Bedürfnis, Schmerzen und Unrecht zu lindern? Die armen Kinder sollen nicht sterben müssen im Irak, Iran oder sonstwo – also macht doch Frieden bitte! Die armen Legehennen sollen nicht so schlimm eingepfercht werden, sondern auch mal im Freien herumtoben dürfen – gebt ihnen doch endlich mehr Platz! Ganz zu schweigen von den armen Homos, Frauen und sonstigen Benachteiligten – helft ihnen doch endlich!

Politiker ohne Stolz

Doch Mitleid ist immer auch eine Herabwürdigung des Bemitleideten: Der Mitleidende blickt von einer höheren Ebene herab auf den Leidenden, fühlt sich zwar schlecht mit ihm, aber es geht ihm immer noch besser als dem anderen. Bitte kein Mitleid – das sagt der Stolze. Aber Politiker im Wahlkampf kennen keinen Stolz.