: „Klänge sind Waffen“
Musikwissenschaftler Holger Schulze über Klänge, die gegen Demonstranten eingesetzt werden, auditive Ablehnung und den europäischen Grundton
Holger Schulze ist Professor für Musikwissenschaft an der Universität Kopenhagen und leitet dort das Sound Studies Lab.
Interview Stella Schalamon
taz am wochenende: Herr Schulze, was ist denn das Problematische an Sounddesign?
Holger Schulze: Sounddesign wird immer mehr zum materiellen Gesicht von Überwachungstechnologien, die uns Zugang zu Orten oder Objekten ermöglichen oder uns zurückweisen. Ob der Check-in am Flughafen, beim Geldabheben, im öffentlichen Nahverkehr, in Kaufhäusern – alle diese Bereiche kommunizieren die Zustimmung oder die Ablehnung einer Person immer durch das Auditive. Wir werden in unserem Alltag unaufhörlich von diesen kleinen Klängen, einer auditiven Peitsche gar, gepiekst, die uns sagen: Du darfst rein, du darfst nicht rein. Und das mal versteckt, mal öffentlich – oder auch online.
Wie werde ich denn auditiv am Check-in abgelehnt?
Sie gehen zum Flughafen, wollen durch den ersten Sicherheits-Check und scannen Ihr Ticket. Das stimmt aus irgendeinem Grund plötzlich nicht und Sie werden durch einen Ton zurückgewiesen. Der Zurückweisungsklang ähnelt sehr dem Fehlerklang bei Gameshows oder dem Tröten einer Warnsirene. Zustimmung klingt eher wie ein hohes, klares, glockenhelles Öffnen eines Verschlusses oder einer Tür.
Gibt es also gute und schlechte Geräusche?
Das würde ich nicht sagen. Ein Klang ist nicht per se schlecht, aber natürlich steckt in ihm auch etwas, wofür er steht. Es liegt an meiner Bewertung, ob ich das gut finde oder schlecht. Aber das ist sehr situativ. Würde mir jemand meinen Lieblingstrack von Aphex Twin in höchster Lautstärke vorspielen, während ich mit Ihnen das Gespräch führe, wäre ich sehr genervt, obwohl ich dieses Lied sehr mag. Extreme Lautstärke oder extreme Dynamik ist für die meisten Menschen sehr anstrengend und physisch belastend.
Vor welchen Geräuschen sollten wir uns fürchten?
Es gibt Klänge, die gegenwärtig als Waffen benutzt werden. Sie sind seit zehn, fünfzehn Jahren immer mehr in Verbreitung. Das klingt erst mal wie Science-Fiction, aber es gibt tatsächlich viele Firmen, die Schallerzeuger verkaufen, um Menschen zu vertreiben. Von Bahnhöfen zum Beispiel, weil man sie dort nicht haben will. Aber auch Gerätschaften, die Demonstranten vertreiben sollen. Es gibt Videos von G20-Demonstrationen in Pittsburgh in den USA, in denen der Einsatz solcher Geräte zu sehen ist. Und es ist bekannt, dass diese Waffen auf Waffenmessen vertrieben werden.
Wie funktionieren die?
Die Geräte haben so eine kleine Parabolantenne und senden einen unglaublich gerichteten, extrem starken, lauten Klang aus. Würde das auf Sie gerichtet werden, wäre das lauter als alles, was Sie aus Clubs oder Konzerten kennen. Sie würden unwillkürlich das Transparent oder die Signaltröte, die Sie in der Hand haben, fallen lassen und Ihre Hände auf Ihre Ohren pressen. Die Entwickler – der größte davon heißt Long Range Acoustic Device, kurz LRAD – nennen es sardonisch auch die akustischen Handschellen. Damit wird jede Demonstration zerstört.
Klingt brutal.
Na ja, die Hersteller sagen, es sind ja keine tödlichen Waffen. Niemand wird sterben, es berührt ja nichts, allen geht es gut. Allerdings erzeugen die Waffen viele physiologische Veränderungen wie Schock, Adrenalin und Resonanzen im Körper, von denen man heute noch gar nicht weiß, wie schädigend sie sind. Es entstehen Traumata und Ängste. Und das ist das Problematische daran, abgesehen davon, dass es jede Form öffentlichen Widerstands im Keim erstickt. Es ist noch nicht einmal dokumentierbar, weil die Menschen, die in der Nähe sind, in aller Regel auch ihre Gerätschaften zum Filmen fallen lassen.
Gibt es ein Geräusch in meinem Alltag, auf das ich mal achten sollte?
Es gibt ein Geräusch, das ich interessant finde, weil es unseren Alltag prägt: das Stand-by-Sirren. Alle Geräte, die wir im Haushalt haben und die nicht vollständig abgeschaltet werden, haben ein Stand-by-Geräusch. Überall, wo Strom läuft, schwingt etwas. Die Frequenz des Stromes, die wir hier in Europa haben, ist eine andere als in den USA. Und wenn jede Elektrizität eine Schwingung und einen Ton mitbringt, dann wird klar, dass wir hier in Europa permanent in einem anderen Grundton leben. Nur schwimmend auf dem offenen Meer, in einer Wüste oder in einem sehr abgelegenen Wald wäre dieser Grundton gar nicht da.
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