Massaker von Srebrenica: "Säule der Schande" für die Opfer
Der Künstler Philipp Ruch will an das Massaker von Srebrenica 1995 erinnern. Im Blick hat er das Versagen der UNO und unserer Zivilisation gegenüber Genoziden.
SARAJEVO taz | Als der Berliner Aktionskünstler Philipp Ruch vor wenigen Monaten nach Sarajevo kam, um sein Projekt vorzustellen, glaubte in Bosnien kaum jemand, dass er es verwirklichen könnte. Zu gigantisch erschien die Aufgabe, die sich der Gründer des "Instituts für politische Schönheit" gestellt hatte. Er wollte bis zum 15. Jahrestag des Massakers von Srebrenica am 11. Juli 16.744 Schuhe in Europa sammeln – je ein Paar für jedes der 8.372 bekannten Opfer. Am Ende der Aktion sollten diese Schuhe mit einigen in den Massengräbern gefundenen Originalschuhen in einer acht Meter hohen Skulptur aus den Buchstaben UN einbetoniert werden.
Mit dieser "Säule der Schande" will Ruch an das Versagen der Vereinten Nationen bei dem Massenmord in Srebrenica erinnern, dem Genozid an der bosniakischen (muslimischen) männlichen Bevölkerung der von Serben eingeschlossenen Enklave Srebrenica am Ende des Krieges in Bosnien und Herzegowina. Die damalige UN-Schutzzone wurde von den UN-Truppen kampflos an den damaligen Oberkommandierenden der serbisch-bosnischen Truppen Ratko Mladic übergeben, dessen Leute vor den Augen der UN-Soldaten am 11. Juli 1995 mit dem Massenmord an Zivilisten begannen.
Es mache immer noch fassungslos, dass dieser Massenmord damals von der Welt hingenommen wurde, sagte Ruch bei seinem Besuch in Sarajevo. "Die Verantwortlichen sind bekannt, der Generalsekretär der UN Kofi Annan, sein Unterhändler in Bosnien Jasushi Akashi. Im Weltsicherheitsrat blockierten Briten, Franzosen und Russen eine Gegenaktion der Nato." Aber niemand sei bestraft worden. "Filmaufnahmen zeigen herumstehende UNO-Soldaten. Für einen Dokumentarfilm über den Krisenstab der UNO haben wir Aufnahmen entdeckt, in denen ein Soldat immer wieder ruft: ,You have to keep the people calm!'
Aber Bilder verleiteten zu Irrtümern. Selbst das Skorpion-Video (ein vor zwei Jahren aufgetauchte Video über die Exekution einiger Zivilisten, d. Red.) könne kaum vermitteln, was in Srebrenica passiert sei: die Hunde, die Menschenjagd, die planmäßige Vernichtung, Todesmärsche durch verminte Wälder, Vergewaltigungen, die Angst und der Verrat der Welt", sagte Ruch. Er setzte sich mit den Müttern von Srebrenica und den Vertreterinnen der Gesellschaft für bedrohte Völker in Sarajevo, Fadila Mimisevic und Belma Sulcic, zusammen. Es gelang, in Bosnien und Europa Sponsoren für das Projekt zu finden. Auch Prominente begannen das Vorhaben zu unterstützen (www. stubsrama.ba). Viele Menschen sammelten über 20.000 Schuhe - allein 9.000 davon in Bosnien.
Die Aktion hat schon das wichtigste Ziel erreicht: über das Ritual der jährlichen Trauerfeier in Srebrenica hinaus die Öffentlichkeit in Bezug auf das Massaker zu sensibilisieren. Am 10. Juli werden die Schuhe in Berlin vor das Brandenburger Tor gekippt. Dann werden sie nach Den Haag gebracht und bei der Wiederaufnahme des Verfahrens gegen einen der Hauptverantwortlichen des Massakers, Radovan Karadzic, im Eingangsbereich des Gerichtes abgelegt. Danach wird die Säule der Schande am Rande der Gedenkstätte Potocari in Srebrenica aufgebaut.
"Nach Srebrenica kann man nicht mehr glaubhaft behaupten, als Zivilisation interessiert daran zu sein, Genozid zu verhindern", sagte Philipp Ruch kürzlich in Berlin. "Wir wollen versuchen, im Westen bekannt zu machen, was ganz Bosnien längst weiß: dass die UNO ihren guten Ruf verspielt hat. Es fällt auf, mit welcher Hochachtung gerade Deutsche von den Vereinten Nationen reden."
Haben die Deutschen den Holocaust wirklich verarbeitet? "Wir haben durch die pausenlose Erinnerung an den Holocaust bei zeitgleicher Tatenlosigkeit in Bosnien, Ruanda, Darfur und Kongo bewiesen, welche Lehre wir aus dem Holocaust zu ziehen bereit waren: Nie wieder Juden. Alle anderen Völker sind verhandelbar", so Ruch. "Aber wir haben nicht die Zeit, einen weiteren Genozid abzuwarten."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen