: Gesucht: 40 Millionen für ein Kulturerbe
Der Jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee, der größte in Europa, verfällt. Die Jüdische Gemeinde will ihn retten
BERLIN taz ■ Überall Verfall – aber wie schön anzuschauen! Der jüdische Friedhof Weißensee in Berlin verrottet zusehends. Die Natur holt sich immer schneller die größte jüdische Begräbnisstätte Europas, 42 Hektar mit etwa 115.000 Grabstellen, zurück: Grabsteine haben sich geneigt. Prunkgräber zerbröseln, Inschriften sind kaum noch zu entziffern. Und über alles legt sich ein dicker Efeuteppich, wächst dichter Wald.
Doch die Jüdische Gemeinde zu Berlin, die größte Deutschlands, will den Verfall stoppen. Nachdem ihr Vorsitzender Albert Meyer schon vor wenigen Wochen in der taz eine Initiative ankündigt hat, den Friedhof zum Weltkulturerbe erklären zu lassen, gibt es jetzt erstmals öffentliche Unterstützung für das Projekt von staatlichen Stellen: Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (SPD), schrieb Meyer, auch er messe dem Friedhof „nationale Bedeutung“ zu: „Daher werde ich Sie bei Ihrem Bemühen, die Bundesregierung zu bewegen, sich für dieses Denkmal zu engagieren und hierfür auch Verantwortung zu übernehmen, gerne unterstützen“, heißt es in dem Schreiben. Wowereit sichert Meyer Hilfe dabei zu, den Friedhof auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes setzen zu lassen.
Der Jüdische Friedhof Weißensee ist, wie es Meyer sagt, „der Friedhof einer untergegangenen Kultur“. Das meist stark assimilierte deutsche Judentum, das der nationalsozialistische Völkermord fast gänzlich zerstörte, hatte hier eines seiner zentralen Begräbnisorte. Für die etwa 175.000 Jüdinnen und Juden, die vor 1933 in der deutschen Hauptstadt lebten, war der Friedhof in Weißensee der wichtigste Bestattungsort für Familienangehörige. Einige bekannte Personen der Kaiserzeit und Weimarer Republik fanden hier ihre letzte Ruhestätte, darunter der Maler Lesser Ury, der Delikatessenhändler Berthold Kempinsky, der Verleger Samuel Fischer und der Kaufhausgründer Hermann Tietz. Zuletzt rückte der Friedhof bei der Beerdigung des Schriftstellers Stefan Heym in die öffentliche Aufmerksamkeit.
Da viele Angehörige der Toten selbst im Holocaust starben, ja ganze Familien ausgelöscht wurden, ist die Jüdische Gemeinde zu Berlin überfordert damit, anstelle dieser Familien die Gräberpflege zu übernehmen. Laut Meyer werden allein die Kosten für die Rekonstruktion der aufwändigen und kunstgeschichtlich bedeutenden Erbbegräbnisse auf etwa 20 Millionen Euro geschätzt. Hinzu komme eine ebenso große Summe für den Erhalt der Infrastruktur, etwa für Wege und Regenwasserkanäle.
Nur wer kann das bezahlen? Der von der Jüdischen Gemeinde geschätzte Sanierungsbedarf von bis zu 40 Millionen Euro könne keinesfalls vom Land Berlin allein getragen werden, hat Berlins Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) schon vorab betont. Außerdem, so die Senatorin, habe das Land schon jetzt einiges in den Erhalt des Friedhofs investiert: Von 1992 bis 2004 seien 2 Millionen Euro privater und öffentlicher Gelder für Reparaturen und Restaurierungsarbeiten auf dem Friedhof ausgegeben worden.
Und es gibt ein zusätzliches Problem: Über die Eintragung in die Liste des Weltkulturerbes entscheidet auf Antrag des betreffenden Staates die für Kultur und Denkmalschutz zuständige UN-Sonderorganisation. Deren Auswahl aber ist streng und dauert des Öfteren mehr als ein Jahrzehnt. So lange kann der Friedhof nicht warten: „Es ist fünf vor zwölf“, sagt Meyer. „Hier kann etwas zerstört werden, was nicht wiederherzustellen ist.“
PHILIPP GESSLER