: Der Traum von einer Familie
AUS HELSINKI HEIKE HAARHOFF
Natürlich grinsen jetzt manche ihrer Freundinnen spöttisch. Anne Moilanen, die Feministin, die Predigerin weiblicher Unabhängigkeit, heiratet. Einen Manager aus einem großen finnischen Verlag. Natürlich ist er älter als sie. Natürlich verdient er mehr als sie. Viel mehr, und das auch noch verlässlich, ihr Verlobter hat eine Festanstellung. Ihm gehört auch die Eigentumswohnung in Helsinki. Sie hingegen hangelt sich durch. Mit befristeten Verträgen bei den Kulturnachrichten beim staatlichen finnischen Fernsehen YLE, mal drei Monate, mal sechs, mal vier.
„Ich habe die Nase voll“, sagt Anne Moilanen. Sie sitzt in einem Café in Helsinki und raucht. Sie will sich nicht rechtfertigen. Aber natürlich beeinflusst die berufliche auch ihre private Situation. Wo immer Anne Moilanen Arbeit fand, bei Finnlands größter Zeitung Helsingin Sanomat, beim Magazin Anna, bei einer studentischen Zeitschrift – die Verträge waren befristet, immer musste die Journalistin, wie sie sagt, „doppelt reinklotzen“, um ihre Beschäftigung zu sichern, immer hieß es: Wenn du mit unseren Bedingungen nicht zufrieden bist, dann geh doch, draußen warten hundert andere. Das stimmt: Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegt bei mehr als 20 Prozent, die Arbeitslosigkeit insgesamt bei 8,4 Prozent. „Man braucht aber ein paar Konstanten im Leben, ein paar Sicherheiten“, sie lacht ein bisschen verlegen, „na ja, und die schaffe ich mir jetzt eben wenigstens privat.“
Anne Moilanen ist 28 Jahre alt, sie besitzt einen Hochschulabschluss und Auslandserfahrung, sie ist motiviert und politisch interessiert, sie möchte arbeiten und Kinder haben. Sie erfüllt alle Voraussetzungen für ein Leben, das der finnische Staat gern propagiert und als Standortqualität preist, ein Leben im Land der Pisa-Sieger, der Innovationen und Kooperationen, der Flexibilität und Mobilität, der sozialen Verantwortung, der großzügigen Erziehungsgelder und Elternrückkehrrechte an den Arbeitsplatz und vor allem: ein Leben in einem Land, das etwas hält auf die Gleichstellung von Frau und Mann.
„Pah“, macht Anne Moilanen. In ihrem Freundinnenkreis, hoch qualifizierte Frauen um die dreißig, hat fast keine einen festen Job, der es ermöglichen würde, von den sozialen Leistungen zu profitieren: ohne Festanstellung kein bezahlter Jahresurlaub, keine Beteiligung an Unternehmensgewinnen, und vor allem: keine Garantie, dass sie – wenn sie ein Baby bekommen – ihren Job am Ende des Mutterschutzes noch haben, schon gar nicht nach Ablauf der Elternzeit, die auch in Finnland bis zu drei Jahren genommen werden kann. Das ist es, was Anne Moilanen wurmt. Sie sagt: „Hinter den befristeten Verträgen steckt Methode.“ Jüngeren Frauen werde praktisch keine andere Form der Beschäftigung mehr angeboten. Die Arbeitgeber seien nicht bereit, das finanzielle Risiko von Mutterschutz und Elternzeit mitzutragen. „Ich mache jede Wette, dass ich längst eine Festanstellung hätte, wenn ich ein Mann wäre.“
Es ist eine Unterstellung, die Staat und Arbeitgeberverbände von sich weisen, aber die Statistik zeigt: Abwegig ist sie nicht. Unter den EU-Altmitgliedern gehört Finnland mit gut 18 Prozent zu den Ländern mit den meisten befristeten Beschäftigungsverhältnissen, nur in Portugal und Spanien gibt es mehr; Deutschland rangiert bei gut 12 Prozent. Anders als in Spanien, wo der Anteil der Zeitverträge schon immer hoch war, schnellt die Zahl in Finnland erst seit Anfang der 90er-Jahre in die Höhe. Und in keinem anderen EU-Altstaat ist die Differenz zwischen befristeten Verträge von Frauen (21,9 Prozent) und solchen von Männern (15,6 Prozent) so hoch wie in Finnland: 6,3 Prozentpunkte.
Reetta Kuosmanen ist 30 und Jugendsekretärin bei der größten Dienstleistungsgewerkschaft PAM (Vereinigte Dienstleistungsunion); sie kennt die Zahlen. Sie hat so viele Frauen beraten, jetzt lassen deren Geschichten sie nicht mehr los. „Das Schlimme ist, dass sich die Frauen damit abfinden“, sagt sie. Sie finden sich damit ab, dass es bei ihren Bewerbungen gar nicht so sehr um Qualifikation geht, sondern mehr oder weniger diskret um die Babyfrage, obwohl das verboten ist. Sie finden sich damit ab, dass sie einen Zeitvertrag bekommen und oft bis kurz vor Ablauf nicht wissen, ob er verlängert wird. Sie finden sich damit ab, dass sie keine Lust haben, die Kollegen näher kennen zu lernen, weil sie wissen, bald arbeitet man nicht mehr zusammen. Sie finden sich ab mit den Selbstzweifeln und mit der Wut, dass sie sich das bieten lassen.
„Natürlich kann man vors Arbeitsgericht ziehen“, sagt Reetta Kuosmanen. Es klingt wie ein Pflichtsatz. Die Verfahren sind langwierig, wer durchhält, gewinnt vielleicht die Festanstellung, schafft sich aber auch ein unerträgliches Arbeitsklima. Reetta Kuosmanen weiß, wovon sie spricht: Ihre Gewerkschaft stellte sie zweimal befristet ein und hätte es vielleicht ein drittes und viertes Mal getan, wäre Reetta Kuosmanen nicht Sturm gelaufen. Seit einem halben Jahr ist ihr Job unbefristet – und Reetta Kuosmanen aus Helsinki in die zentralfinnische Provinz versetzt worden.
Es ist nicht so sehr die Privatwirtschaft, die darauf achtet, unbefristete Verträge erst wieder an Frauen über vierzig zu vergeben. Es sind ausgerechnet diejenigen, die das Gegenteil propagieren: staatliche Institutionen, öffentlich-rechtliche Körperschaften, Kommunen. Anfangs waren es nur Verwaltungsangestellte, neuerdings sind es auch Krankenpflegerinnen, Erzieherinnen und Lehrerinnen, die schon mal monatsweise beschäftigt werden. Der Vorteil: Gibt es Einschnitte in den Haushalten, können die Stellen eingefroren werden. Der Nachteil lässt sich beschreiben am Beispiel von Hanna Sakara, 32 Jahre, Grundschullehrerin für plastische Kunst, Malerei und Zeichnen. Das jedenfalls hat sie studiert an der Kunstakademie Helsinki. Heute ist die Mutter zweier Kinder froh, überhaupt Arbeit zu haben: an einem Gymnasium, sieben Stunden pro Woche in sieben Klassen, befristet auf das laufende Schuljahr.
Jetzt wird wieder verhandelt. Aber diese Unsicherheit ist es nicht, die ihr zu schaffen macht. „Ich hatte mal den Anspruch, eine gute Pädagogin zu sein, eine Beziehung zu Schülern aufzubauen und ihnen den Zugang zur Kunst zu erleichtern.“ Das hat mit dem Heute wenig zu tun. Sie sagt: „Ich nehme, was ich kriege. Wenn jemand kurzfristig gebraucht wird, um eine Abiturklausur zu beaufsichtigen, weil ein Kollege krank ist, mache ich das auch.“ Nebenher gibt sie Zeichenkurse in Kinder- und Jugendzentren, sie organisiert Seminare für Erwachsene, hat ihr Handy eingeschaltet, um keinen Auftrag zu verpassen. Denn von den monatlich 730 Euro brutto, die sie am Gymnasium verdient, kann sie die Familie nicht ernähren: die Lebenshaltungskosten liegen etwa um ein Fünftel höher als in Deutschland. Im letzten Schuljahr wurden in ganz Helsinki fünf unbefristete Stellen für Kunstlehrer neu besetzt. Hanna Sakara und ihr Freund, ein Sprachwissenschaftler ohne Festanstellung, hatten mal den Traum von einer großen Familie, drei Kinder oder mehr; die ersten beiden bekamen sie während des Studiums. „Verglichen mit heute“, sagt Hanna Sakara, „war unser Leben damals voller Perspektiven und geradezu planbar.“