ChronikeinesangekündigtenMordes

Aberwitz, Wortspiele, Räuberpistolen: Der Autor Maruan Paschen macht sich daran, den Literaturbetrieb ein bisschen aufzumischen – mit einem Roman, der ausgerechnet den Titel „Weihnachten“ trägt

Gerne mit Mütze: Maruan Paschen in Berlin Foto: Dagmar Morath

VonDoris Akrap

Wenn fünf Onkel, die Mutter und der Sohn in unterschiedlichen Autos durch das verschneite Norddeutschland an einen See reisen, sich dort mit Handschellen an einen Tisch setzen und es Fondue gibt, dann ist Weihnachten bei den Paschens. Also den Paschens, wie sie der Autor Maruan Paschen in seinem neuen Roman „Weihnachten“ beschreibt.

Das Weihnachtsessen als Rahmen zu nutzen, um einen Familienroman zu schreiben – was läge näher? Doch in diesem Roman fällt ansonsten alles aus dem Rahmen. Ein bisschen wie der Autor selbst. Maruan Paschen trägt beispielsweise meistens eine Kopfbedeckung. Obwohl er Absolvent diverser Schreibschulen ist, schreibt er eine auffällig andere Prosa als so viele andere Schreibschulabsolventen. Auch auffällig anders: das Reden mit Halbbekannten, ob über Literatur, Supermarktprodukte, den Nahen Osten oder seine Familie, fällt ihm nicht schwer, sondern scheint ihm großen Spaß zu machen.

Und so ist auch das, was „Weihnachten“ vordergründig zusammenhält, vor allem die unterhaltsame, umherschweifende, grausam tiefgehende, aber auch hochironische und hochkomische Darbietung der Geschichte der Familienmitglieder der Paschens, so wie sie der Ich-Erzähler Maruan im Gespräch mit seinem Therapeuten, den er Dr. Gänsehaupt nennt, präsentiert. Doch nicht erst mit der Auflösung der Mitglieder nach Ende des Festessens zerbröselt der Zusammenhalt. Viel früher wird für den Leser fraglich, ob es den Therapeuten überhaupt gibt, was von all den Anekdoten, die der Ich-Erzähler präsentiert, dolldreiste Räuberpistolen sind und ob es in dieser Chronik eines angekündigten Mordes überhaupt einen echten Toten gibt.

Man weiß es alles nicht so genau. Und doch. Denn der ganze Roman ist völlig übermetaphert. Er lässt sich auch als eine einzige Parodie aufs zeitgenössische Erzählen lesen. So wird der Therapeut denn auch mehrfach von seinem allwissenden Patienten gewarnt, nicht zu viel in sein Gesagtes reinzulesen.

Aufgeregter als dem Geschehen folgt man denn auch irgendwann den aberwitzigen Sätzen, Wortspielen und Worthinterfragungen des Roman-Maruans. Der wiederum erscheint einem ob seiner klugen Trotteligkeit, der Selbstironie und des manischen Irrlichterns wie eine Mischung aus Adriano Celentano und Klaus Kinski.

„Bei uns gibt es wirklich immer Fondue an Weihnachten“, antwortet der echte Maruan Paschen in unserem Gespräch an einem dieser heißen Berliner Sommerabende, in denen die Temperatur bei etwa 34 Grad stehen blieb. „Und auch die fünf Onkel gibt es“, sagt er. „Also die Fünf stimmt.“

Dass der 1984 im Westjordanland geborene und in Hamburg aufgewachsene Schriftsteller, der seine Sätze oft mit „Dass“ beginnt, viel Talent hat, hat der deutschsprachige Literaturbetrieb längst erkannt. Paschen war Stipendiat der Akademie Schloss Solitude und wurde an den „Kompetenzzentren für kreatives Schreiben“, den Schreibschulen in Leipzig, Wien und Biel, ausgebildet.

Dabei war Schule nie sein Ding. Maruan Paschen hat kein Abitur, nicht mal Hauptschulabschluss, die 10. Klasse hat er drei Mal wiederholt und schließlich in Leipzig in einer Spitzenküche eine Ausbildung zum Koch angefangen, die er abgebrochen hat. „Es gibt ein Abend-Ich und ein Morgen-Ich und die liegen bei mir extrem im Clinch“, erzählt er. „Ich wollte immer das Kind sein, das sagt, es lernt nicht, und dann trotzdem Einsen schreibt. Ich war aber immer das Kind, das nicht gelernt hat und dann unerwartet eine Sechs geschrieben hat.“

Paschen führt in „Weihnachten“ vor, wie sehr das Erleben, die Wahrnehmung eines Ereignisses, von der Perspektive abhängt. Sicher liegt das auch ein bisschen an seiner eigenen Familie. Denn seinen Vater, einen Hamburger Palästinenser, hat er nie kennengelernt. Er verließ seine Mutter noch vor seiner Geburt. Paschen sucht nach Spuren von ihm. Er verbringt ein freiwilliges soziales Jahr im Nahen Osten, geht als Deutschlehrer nach Libyen, wo er den Sturz Gaddafis miterlebt, merkt, dass er lieber im Stehen als im Sitzen Kaffee trinkt, und glaubt, dass sei sein arabisches Erbe. Die Geschichten, die er über seinen Vater im Laufe der Jahre einsammelt, sind sehr unterschiedlich. Mittlerweile ist er sich aber ziemlich sicher: „Mein Vater muss ein Arschloch und ein Scheißelaberer gewesen sein.“ Damit meint er, dass sein Vater sein Leben lang Geschichten erzählt hat, die zumindest nicht so ganz stimmen.

„Das hab ich von meinem Vater geerbt“, sagt Paschen, der meistens eine Basken- oder Schiebermütze auf dem Kopf trägt und ein Meister der legeren Kommunikation ist. Er nimmt Gesagtes nicht einfach so hin, sondern auf, spielt mit den Worten und Ideen, die der Gesprächswillige wiederum aufnehmen und weiterspielen kann. Manchmal hält er aber mittendrin inne und sagt: „Ach Quatsch, ich weiß doch gar nichts darüber.“ Oder: „Rosamunde-Pilcher-Style. Ich sag das immer so. Aber ich weiß gar nicht, was es bedeutet.“ Er scheint damit zu spielen, dass man im Gespräch jederzeit auf eine Hochstapelei des Gegenübers hereinfallen kann. Und hat nicht jeder selbst die Erfahrung gemacht, dass ohne eine gewisse Portion Hochstaplertum auch keine anregende Unterhaltung stattfinden kann?

Paschen gerät immer wieder ins Staunen über das, was ein Wort so alles kann, welche Illusionen es beschwören, welche Macht es haben kann. Den Unterschied zwischen Wörtern und Worten erklärt sein Erzähler in „Weihnachten“ beispielsweise so: „Worte haben eine eigene Lautstärke, eine eigene Temperatur. Sie bestehen nicht aus Buchstaben, sie sind nicht geschrieben, sie sind.“

„Es geht darum, an etwas zu kommen, was intensiv ist und an mögliche innere Menschlichkeit anrührt“

Maruan Paschen

Selbst, wenn Paschen über Dinge redet, über die er sich ärgern muss, kriegt seine Stirn keine Falten, und auch sein Ton wird nur unwesentlich giftiger. Der Zustand der deutschen Literatur versetzt ihn aber in Aufruhr: „Ich brauche keine Literatur als Geschichtsstunde, und auch als Sozialforschung dient Literatur nur mäßig. Es gibt mittlerweile genug geschichtsklitternde Romane, die bei Auschwitz anfangen, von der nicht ganz so schlimmen DDR-Zeit erzählen und im Kapitalismus enden, der dann auch nicht so doll ist. Es geht doch um was anderes. Darum, einen Keil in unsere Wahrnehmung zu hauen. Sodass sich da ein bisschen was öffnet, in das man reinlugen kann und was anderes sieht.“

Was andere Autoren auf 500 Seiten Generationsroman beschreiben, bringt Maruan Paschen in einem Absatz unter: „Die Generation meiner Mutter stand auf, wenn der Lehrer die Klasse betrat, Tarzans [einer der Onkel im Buch] Generation stand viel im Stau. Meine Generation schneidet sich mit Messern in die Unterarme. Omas Generation wusste von nichts, Tarzans Generation wusste, dass Omas Generation sehr wohl von etwas wusste, aber dass Oma selbst tatsächlich nichts wusste, und meine Generation weiß, dass das alles nicht so einfach ist, und resigniert vor der Komplexität von allem.“

Paschen fehlen Literaten, die sich in ihrem Werk mit anderen Autoren auseinandersetzen. Und so schreibt er an gegen den Sinn in der Literatur, gegen ihren Gebrauchswert und ihre Kapitalisierung. „Natürlich wäre ich gern ein supererfolgreicher Autor. Aber ich schreibe nicht, weil es Publikum gibt“, sagt Paschen. „Es geht darum, sich in die babylonische Bibliothek von Borges einzureihen. An etwas zu kommen, was intensiv ist und an mögliche innere Menschlichkeit anrührt. ,Weihnachten‘ ist eine Kritik an dem, wie Romane geschrieben werden. An dem, das beschrieben wird, wie das Essen von Oma gerochen hat und so was. Die deutsche Literatur wird immer biederer. Diese Literatur hat das Sterben verdient.“

Auf dem Papier herrsche eigentlich absolute Freiheit, sagt er noch. Keine andere Kunst sei so uneingeschränkt wie die des Schreibens. „Ich raff nicht, warum sich ausgerechnet Schriftsteller und Verlage gegenseitig einsperren.“ Das Geschichtenerzählen sei fast komplett kompromittiert durch das, was Storytelling heiße. Die Buchbranche glaube, mit vermeintlich aktuellen Themen sei die Literatur zu retten. Dabei sei das Quatsch. Es wäre vielleicht besser gewesen, Günter Grass hätte nicht über Israel reden müssen, und es brauche nicht einen Uwe Tellkamp, um über Flüchtlinge zu reden. Schriftsteller sollten darüber reden, wovon sie Ahnung haben. „Wenn man den Schriftstellern öfter die Möglichkeit geben würde, einfach mal die Schnauze zu halten, dann wäre schon viel gewonnen.“

„Weihnachten“ ist übrigens ein sehr unterhaltsamer Roman. Und zwar wegen und nicht trotz all der Ungereimtheiten und der vermeintlich absurd nebensächlichen Dinge wie Kapern, die unter dem linken Nasenloch eines Onkels kleben.

Maruan Paschen: „Weihnachten“. Matthes & Seitz, Berlin 2018, 196 Seiten, 20 Euro