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Existenzielle Geisterjagd

Das freie Theaterduo „Die Azubis“ lädt Jugendliche auf dem Ohlsdorfer Friedhof zum Theaterparcours rund um die großen Fragen des Lebens und Sterbens

Von Robert Matthies

Weiße Gestalten am Fenster einer Gruft, obwohl die Tür doch fest verschlossen ist: Gruselig, was der Leiter der „Schleswig-Holstein Ghosthunters“ auf dem Ohlsdorfer Friedhof gesehen haben will. Geister, die in den alten Gemäuern rumoren? Nein, gespukt habe es dort nicht, antworten ihm andere im Internetforum „Geister und Gespenster“: Die weißen Gestalten seien bloß Jesusfiguren in den Fensterbildern des berühmten Mausoleums des Barons von Schröder.

Immer wieder machen sich solche „Ghosthunter“ auf Friedhöfen auf Geistersuche – wo sollte man auch besser nach ihnen suchen? Beim Theaterparcours „Geister“, zu dem das freie Duo „Die Azubis“ ab diesem Samstagabend eine Woche lang Jugendliche auf den Ohlsdorfer Friedhof einlädt, geht es aber nicht um rostige Klapperketten und gruselig wird es auch nicht.

Um wiederauferstandene Tote und andere Wiedergänger aus der Vergangenheit geht es natürlich doch. Vor allem aber darum, wie das Vergangene ganz und gar gegenwärtig ist, unheimlich anwesend und abwesend zugleich. Und darum, wie man zu den großen Fragen des Lebens und Sterbens heute steht: „Wie wollen wir leben? Woran glauben wir? Wofür treten wir ein? Wofür lohnt es sich zu sterben?“, fragt Friedhofsführer-Azubi Kai Fischer, nachdem die Audioguides verteilt worden sind.

Dass es in existenziellen Lebensfragen gerade bei Jugendlichen ein breites Spektrum an Einstellungen gibt, wird bei der ersten Schulvorstellung am Donnerstagvormittag vor der Premiere deutlich. Da sollen sich alle in einem Zustimmungsraum positionieren: Für ihr Land in den Krieg ziehen, das würde nur eine Handvoll der Zehnklässler*innen tun. Ob ihnen die Werte der Bibel oder des Korans wichtiger seien als die, die im Grundgesetz formuliert sind: Da steht die Hälfte von ihnen der anderen gegenüber.

Wie eine klassische Führung beginnt der Rundgang über Europas größten Parkfriedhof. Erst mal gibt es Informationen: Rund 1,4 Millionen Menschen sind hier seit der Einweihung 1877 begraben worden, über 200.000 Grabstellen gibt es heute. 150 Jahre Geschichte des Lebens und Sterbens, des Tötens und des Trauerns versammeln sich auf 389 Hektar.

Vom Haupteingang geht es zum Gedenkort für die Revolutionsgefallenen von 1918 bis 1920 und am „Revier Blutbuche“ vorbei, wo Hamburger Polizisten unter martialischen Grabsteinen begraben liegen. Immer mehr wird der Rundgang dabei zum Theater zwischen den Gräbern. Unterwegs wird die Gruppe von einer jungen Frau angesprochen: Ob sie vielleicht ihren kleinen Bruder gesehen hätten?

Im Ehrenhain für die Hamburgischen Widerstandskämpfer dann kommt es zur Ausein­andersetzung zwischen dem Friedhofsführer und einer zweiten Frau, die verzweifelt einen weißen Sack hinter sich herzieht, während die Parcour-Teilnehmer*innen Werte auf kleine weiße Steine schreiben, für die sie ihren eigenen Tod in Kauf nehmen würden. Als diese Frau später erneut an der nächsten Wegkreuzung auftaucht, kommt es erneut zum Streit, dann verschwindet Führer Kai Fischer schließlich mit ihr – und kommt nicht zurück.

Stattdessen macht eine dritte junge Frau auf sich aufmerksam. Iphigenie heiße sie und solle geopfert und also unsterbliche Heldin werden, damit die Griechen vor Troja siegen können. Ob jemand sie noch mal fotografieren könne, so schön herausgeputzt wie sie sei, fragt sie aufgeregt. Und beginnt schließlich zu zögern, ob sie nicht doch lieber leben wolle: schwimmen gehen oder Freunde treffen.

Auch die anderen Frauen entpuppen sich schließlich als Antigone und Elektra, die ihre toten Verwandten begraben und betrauern wollen und Auswege suchen aus den existenziellen Zwickmühlen ihrer antiken Geschichten. Zusammengeführt werden die schließlich in der vor ein paar Jahren zur Kulturkapelle umgewidmeten Kapelle 3, wo Agamemnon zum Leichenschmaus im Gedenken an die gefallenen Griechen lädt.

Dort werden die existenziellen Fragen wieder aufgenommen. Die Gäste sitzen am Tisch, während Agamemnon vom Heldentod spricht und die Geschichte vom Kampf um Troja als projizierte Sandmalerei erzählt. Und dann, erzählt Azubi Christopher Weiß, komme im antiken Drama eigentlich die Jagdgötting Artemis als Deus ex Machina vom Olymp herab, um Iphigenie zu retten.

Hier aber werden die anwesenden Lebendigen zu Richtern, die sich im Bild einer Digitalkamera vom Olymp aus selbst dabei zusehen, wie sie das Schicksal der Hin- und Hergerissenen entscheiden: Soll sie leben, auch wenn dann 10.000 Griech*innen sterben müssen? Und plötzlich sind all die seit Urzeiten herumgeisternden existenziellen Fragen ganz lebendig.

Premiere: Sa, 1. 9., 19 Uhr, Ohlsdorfer Friedhof/Treffpunkt hinterm Verwaltungsgebäude. Aufführungen: 2./6./7. und 9. 9.

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