Flüchtlingshilfe auf dem Bahnhofsklo
Vom Internat in Lagos zum Hamburger Hauptbahnhof: Gemeinsam mit der nigerianischen Autorin Sylvia Ofili erzählt die Zeichnerin Birgit Weyhe die Geschichte eines Lebens in zwei Welten
Von Jan-Paul Koopmann
Schuluniformen, heimliche Pyjamapartys und Freundschaften für die Ewigkeit: Man kennt diese Internatsgeschichten in- und auswendig, weil es eben tatsächlich Geschichten sind – ein hochgradig populäres Genre obendrein. Klar ist das echte Leben im Schülerheim auch hierzulande nicht ganz einfach, doch für die Nigerianerin Olivia ist der Absturz aus der Jugendbuch-Vorstellung in die Realität besonders tief: Mit den Enid-Blyton-Romanen ihrer deutschstämmigen Mutter im Kopf macht sie sich begeistert auf die Reise ins ferne Lagos. Aber im Mädchen-Internat warten harte körperliche Arbeit und ein perfides System willkürlicher Strafen auf die junge Schülerin.
Erzählt wird Olivias Geschichte in dem Comic „German Calendar No December“, den die Hamburger Zeichnerin Birgit Weyhe gemeinsam mit der nigerianischen Autorin Sylvia Ofili erschaffen hat. Eine Auftragsarbeit des nigerianischen Goethe-Instituts war das, mit klaren Auflagen: die deutsch-nigerianische Künstlerpaarung etwa sowie ein Ortswechsel innerhalb der Geschichte, vom einen in das andere Land.
Nun hat Birgit Weyhe mit ihrem ausgesprochen erfolgreichen Comic „Madgermanes“, der die Geschichte ehemaliger mosambikischer Gastarbeiter*innen in der DDR erzählt, ihr Geschick für deutsch-afrikanische Geschichten längst unter Beweis gestellt. Gespeist aus eigener Erfahrung übrigens: Ihre Kindheit und Jugend hat Weyhe selbst in Ostafrika verbracht. Und auch wenn Nigeria nicht Mosambik ist und Birgit nicht Sylvia (die in weiten Teilen des Buchs ihre eigene Lebensgeschichte erzählt): Die Parallelen zwischen beiden Büchern sind zumindest auf der Bildebene unübersehbar.
Wie in Madgermanes arbeitet Weyhe auch in German Calendar No December in assoziativen Zeichnungen, die afrikanische Bildtraditionen mit dem deutschen Kunstcomic Hamburger Prägung miteinander verbinden. Vögel, Schlangen, Ornamente füllen mitunter ganze Seiten und stehen da symbolisch für Einsamkeit, Identitätsfragen und andere Probleme des Erwachsenwerdens.
Doch anders als im Autorencomic Madgermanes steht diese freie Bildsprache subjektiven Fühlens hier im harten Kontrast zur schnörkellos sachlichen und eben autobiographischen Sprache eines anderen Menschen. Diese Zusammenarbeit mit der Journalistin Sylvia Ofili ist Weyhes erste Veröffentlichung, deren Texte sie nicht selbst geschrieben hat.
Und Ofilis Erzählung? Die fängt zumindest sehr gut an. Das Internat ist fühlbar grauenhaft, die liebevollen Eltern sehr rührend bei den Reisevorbereitungen – und der Schulalltag durchaus auch von dokumentarischem Wert. Denn tatsächlich gibt es die eingangs erwähnten Internatsgeschichten in Nigeria überhaupt nicht. Oder es gibt sie erst jetzt, seit German Calendar No December in englischer Sprache auch in Nigeria erschienen ist.
Es war also gar nicht allein Olivias oder Sylvias europäische Mutter, die mit Hilfe Enid Blytons falsche Erwartungen geweckt hätte, sondern auch das völlige Fehlen eigener Erzählungen. Und wäre das Buch mit der Schulzeit seiner Hauptperson vorbei, dann wäre es ein verdienstvolles und rundes Werk, an dem nigerianische Schüler*innen und das interessierte Europa gleichermaßen ihre Freude haben könnten.
Ist es aber nicht. Auf das Internat folgt die Auswanderung nach Deutschland. Olivia studiert in Hamburg und jobbt nebenher am Hauptbahnhof, wo sie mit ihren Kolleg*innen und dem Personal der nahen Bahnhofstoilette ein heimliches Hilfsnetzwerk für illegale Geflüchtete aufbaut. Passiert ist das tatsächlich nie: Ofili ist zwar in verschiedene europäische Länder gereist, hat aber nicht in Deutschland gelebt. Und die Flüchtlingshelfer*innen vom Bahnhofsklo hat es auch woanders nicht gegeben.
Umso verblüffender ist, wie ereignislos die keinem realen Geschehen mehr verpflichtete Erzählung ab hier verläuft. Ein kurzer Konflikt mit dem neuen Vorsteher verpufft nach wenigen Seiten und auch sonst dümpelt die Geschichte so vor sich hin. Drin gewesen wäre mehr, wie zumindest am Rande zu erfahren ist: Das afrikanische Mädchen mit der deutschen Mutter fällt in Nigeria als „Oyinbo“ auf – als Weiße. Doch für Deutschland ist sie zu schwarz. Der doppelte Rassismus ist interessant, weil er herausfordert und ein Problem benennt, das eben nicht als moralischer Appell verhallt, sondern drängend bleibt. Doch dieser Gedanke bleibt eine Randnotiz. Wirklich ausformuliert wird er nicht.
Und so spannend interkulturelle Kooperationen auch sein mögen: Dass Birgit Weyhes Autorinnencomic Madgermanes um Längen besser ausfällt, ist auch deswegen so evident, weil beide Geschichten letztlich doch ähnlich angelegt sind. Madgermanes ist übrigens eigentlich das frischere Buch – die Arbeit an German Calendar No December hat sich nur sehr lange hingezogen.
Dennoch: Der erste Teil ist die Lektüre schon wert. Nicht nur, weil er eine Lücke in der nigerianischen Literaturlandschaft schließt, sondern auch, weil er über den Widerstand der jungen gegen die älteren Schülerinnen eine pop-globalisierte Kultur porträtiert, um die es heute – wenige Jahre später – nicht gut bestellt ist. „Nigerianische Mädchenschule“ ist ein Schlagwort, das heute von den grauenhaften Überfällen der Islamisten Boko Haram besetzt wird.
Die weltweites Aufsehen erregende Kampagne „Bring Back Our Girls“ zur Befreiung von vor Jahren im Norden des Landes verschleppten Mädchen wurde übrigens auch von Sylvia Ofili unterstützt. Die sich in verschiedenen Texten so bissig wie klug zu den Kämpfen nigerianischer Homosexueller gegen religiös motivierte Verfolgung positioniert. Insgesamt, so macht es den Eindruck, scheinen ihr die echten Geschichten jedenfalls mehr zu liegen als die Fiktion.
Birgit Weyhe, Sylvia Ofili: German Calendar No December, Avant Verlag 2018, 168 S., 22 Euro