Fremdenführung wird hier zum Kinderspiel

Kinder führen Kinder durch den Aachener Dom. Statt Langeweile zwischen großen Füßen geht es um Karls Jagdtrieb, die Domheiligen und Fabulierkunst

„Kinder vermitteln die Kunstwerke viel ergreifender als ein Kunsthistoriker“

AUS AACHEN STEFANIE TYROLLER

„Wisst Ihr, warum Kaiser Karl Aachen zum Zentrum seines Reiches gemacht hat?“, fragt Felicitas in die Runde. „Weil er Rheuma hatte und es hier heiße Quelle gab“, gibt ein Kind schnell zur Antwort. „Richtig, und weil er in den Wäldern um Aachen jagen konnte. Der hat einfach gerne Tiere abgeknallt“, ergänzt Felicitas mit sanfter Stimme – die Fremdenführerin ist erst elf Jahre alt.

Felicitas führt ihre Gruppe in den achteckigen Hauptraum des von Kaiser Karl erbauten Aachener Domes, das Oktogon. Mehr als eine Stunde erklärt sie den jungen Besuchern die Sehenswürdigkeiten des Gotteshauses und testet zwischendurch mit unschuldigen Fragen ihre Zuhörer. Den Trick mit dem Nachfragen hat Felicitas von Agnes Wirtz gelernt. Aber auch die Fähigkeit, die Fakten im Kopf zu behalten und spontan wiederzugeben. Oder mutig auf die Frage, wie schwer denn die Kette des Barbarossa-Leuchters sei, zu antworten. „Ich weiß leider auch nicht alles.“ Agnes Wirtz, ausgebildete Kunsthistorikerin und selbst langjährige Domführerin weiß, worauf es in einer Führung ankommt und welche Schwierigkeiten auftreten können. Aus dieser Erfahrung heraus bildet die 29-jährige Ungarin am Aachener Dom in einem einzigartigen Projekt Kinder zu Domführern aus.

Wöchentlich trainieren dabei rund 40 Kinder mit Spielen und Vorträgen ihr Wissen zum Dom, lernen rhetorische Kniffe, machen sprachliche Übungen und feilen an ihren Präsentationsfähigkeiten. „Ich finde es schön, anderen Kindern mein Wissen weiterzugeben“, sagt Felicitas. Denn aus eigenem Erleben weiß das dunkelhaarige Mädchen, was es bedeutet, als Kind von Erwachsenen geführt zu werden: „Man sieht nur Füße und versteht kein Wort.“

Doch nicht nur die Verständlichkeit, auch die Innigkeit, mit der Felicitas „ihren“ Dom zeigt, macht die Führung für andere Kinder so reizvoll. Begeistert ist auch der ehemalige Domprobst Hans Müllejans, in dessen Amtszeit das Kinderdomführer-Projekt gestartet ist: „Die Kinder erfassen das Wesen dieser Kunstwerke in ihrer kindlichen Art und vermitteln das viel ergreifender als ein Kunsthistoriker.“

Entwickelt hat sich das Projekt aus einem Kunstgeschichtskurs, den Agnes Wirtz in einem Kindergarten und einer Grundschule in Aachen begann. In einem imaginären Bilderzug reist sie mit ihren Schützlingen in das Italien von Giotto oder Botticelli, in die dunkle Bilderwelt Rembrandts oder das verspielte Rokoko. Bereits im Advent 2001 gehen die Kunstgeschichtskinder an die Öffentlichkeit. Sie zeigen ihren Altersgenossen die Sehenswürdigkeiten der Domschatzkammer. Dann folgen die ersten Domführungen. Zum Kinderdomtag im Oktober 2003 erscheint „Das Kinderdombuch“, das Agnes Wirtz gemeinsam mit den Kindern geschrieben hat. Die Kinder beschäftigen sich in den wöchentlichen Kursen nur noch mit Dom und Domschatzkammer.

Dem elfjährigen Oliver fehlt noch ein Schein zur Domführerprüfung. Alle Sehenswürdigkeiten des Domes kann er führen, nur den Marienschrein noch nicht. Der 14-jährige routinierte Domführer Paul referiert für ihn nochmals die Fakten und Geschichten rund um den prächtigen Gegenstand. Dann beginnt Oliver zu erzählen, langsam, bedächtig und mit hübscher Intonation. Plötzlich weiß er nicht mehr, wie die Heiligenfiguren auf dem Schrein heißen. „Wer ist denn noch heilig?“, fragt er in die Runde und rettet sich damit aus der kniffligen Situation. Dann hat er den Faden wieder gefunden. Agnes Wirtz ist begeistert und händigt ihm den Schein aus – ein blaues Kärtchen, auf dem die Sehenswürdigkeit vermerkt ist. Nun stehen noch zwei Übungsführungen und eine Prüfungsführung mit Agnes Wirtz durch den Dom an, dann darf auch Oliver Besucher-Gruppen durch den Dom führen.

„Meine Stunden leben von der Improvisation und dem direkten Reagieren auf die Kinder“, sagt Agnes Wirtz, wenn sie nach ihrem pädagogischen Konzept gefragt wird. Beim Üben merkt sie schnell, woran noch gefeilt werden muss. Die einen verpacken die Informationen zu knapp, sie müssen üben, ausschweifender zu erzählen. Die andere reden zu viel und müssen sich auf das Wesentliche konzentrieren. Sie sollen in einer Minute möglichst viele Fakten zu einer Sehenswürdigkeit aufzählen und kriegen für jeden einen Punkt. Wer am Ende die meisten Punkte hat, darf sich eine Kunstpostkarte aussuchen. Im Wettbewerb mit den anderen gibt jeder sein Bestes.

„Frau Wirtz ist pädagogisch hervorragend und anspruchsvoll“, attestiert Rektorin Ruth Reinehr von der katholischen Grundschule am Römerhof, wo Wirtz mit dem Bilderzug begann und heute die Domführerkinder unterrichtet. „Die Kinder müssen viel lernen und finden das auch schwierig, aber sie bleiben alle bei der Stange. Sie entwickeln Selbständigkeit und ein großes Selbstbewusstsein“, sagt Reinehr. Monika Elling, die Deutsch am Gymnasium unterrichtet, bemerkt an den Domführerkinder vor allem eine große Lust am Erzählen und Formulieren: „Die Kinder schreiben anschauliche, lange Texte.“ Beim Referat über Delphine beeindruckte Felicitas kürzlich auch ihre Biologielehrerin durch die freie Rede und ihre lebendige Präsentation, erzählt ihre Mutter.

Natürlich freut sich Agnes Wirtz, dass die Kinder so viel Nutzen aus der Domführerausbildung ziehen. Ihr geht es aber vielmehr darum, die Kinder an einer spannenden und wertvollen Welt teilhaben zu lassen, die sie selbst gestalten können. „Im Gleichtrott des täglichen Lebens sollen sie etwas erleben, für das sie sich begeistern können“, begründet Wirtz ihr ehrenamtliches Engagement – sie ist mit den Kindern sogar nach Paris in den Louvre gefahren. Diese Leidenschaft für die Sache kommt bei den Kindern an – alle Einnahmen aus den Führungen der Domkinder fließen selbstverständlich in die Renovierung des Doms. Selbst das Trinkgeld wandere meist in den Spendentopf, verrät Felicitas‘ Mutter.