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Etwas mehr als wieder nur Musik

Das „13-Grad-Festival“ nimmt kommende Woche erstmals die alte Wollkämmerei in Blumenthal in Beschlag. Auf dem Programm stehen neben diversen Konzerten auch Workshops, Lesungen und das Training zivilen Ungehorsams

Von Jens Fischer

Der Open-Air-Markt floriert auch in diesem verwüstenden Klimawandelsommer. Im Zentrum der nordwestdeutschen Festivalkultur liegt Bremen. Zwischen der alkoholseligen XXL-Abi­abschluss-Sause, der das „Hurricane“ in Scheeßel die Infrastruktur und den Live-Soundtrack zur Verfügung stellt – und dem eher bekifften Chill-out-Update, zu dem sich unbeirrbar nette Schüler und Studenten bei entsprechender Musik in Diepholz auf dem „Appletree“ treffen. Derweil erblühen in der Hansestadt für sehr unterschiedliche Klientel mal mehr, mal weniger, mal gar nicht charmante Alternativen: Festival Maritim, Sommer in Lesmona, Breminale und die Schlagersause Olé gehören zu den Etablierten, daneben haben sich kleine Open-Airs ihren Platz erobert, etwa in der Überseestadt, an der Vorstraße, am Lankenauer Höft, Flughafen und Hemelinger Weserufer, aber auch im Rhododen­dronpark sowie in den Neustadtswallanlagen. Alle funktionieren vor allem – als Musikfestivals.

Jetzt gibt es Rettung aus der Monokultur. Das nun erstmals startende „13-Grad-Festival“ soll explizit eines für mehrere Kunstformen sein. Als Experimentiergelände gebucht ist die im Halbschlaf befindliche Bremer Wollkämmerei (BWK) in Blumenthal: eine imposante Kulisse aus brach dahinrostender Industriehistorie und neu entstehendem Gewerbe.

„Mittendrin entsteht jetzt ein Kulturdorf, gleichberechtigt sollen dort sechs Kunstsparten für sie eingerichtete Bereiche bespielen“, erklärt Katrin Windheuser, zusammen mit Katharina Wisotzki Intendantin des Festivals – oder wie sei selbst sagen: „Mädchen für alles.“ Die denkmalgeschützte, backsteinrote Fliegerhalle aus dem Jahr 1929, 2.400 Quadratmeter groß, beherbergt den Ausstellungsbereich der bildenden Kunst sowie die Bühne für Lesungen, Vorträge und Debatten. Kernthemen seien Migration und der NSU, so Windheuser. Man wolle auch die NS-Geschichte dieses Ortes vermitteln statt nur zu feiern. Zum Klub soll die Halle bis morgens um 4 Uhr werden.

In der modern fensterlosen Halle 221 sind Theater und Kino beheimatet. Konzertbühnen stehen auf dem Freigelände. In schattigen Nischen, sonnigen Idyllzonen oder von Zelten beschützt finden zudem 30 Workshops statt, die zwei Stunden bis drei Tage dauern. Hula-Hoop-Reifen können gebastelt, Bücher gebunden, Körper mit Yoga-Massagen verzärtelt werden. Auch ziviler Ungehorsam wird eingeübt und ein Clownsseminar behandelt das „Scheitern und andere schöne Dinge“.

Statt einfach nur zu feiern, will das Festivalteam auch die NS-Geschichte des Ortes in Erinnerung rufen

Wisotzki sagt: „Wir sprechen nicht so sehr das Publikum an, das zu zwei Bands kommt und dann wieder geht, sondern Neugierige, die jenseits ihrer Interessen etwas entdecken, andere Erfahrungen machen, sich auseinandersetzen und einbringen wollen.“ Auch Literatur-, Film- und Theaterveranstaltungen seien auf Dialog ausgerichtet oder gleich als partizipative Projekte konzipiert. Wisotzki: „Selbstironisch werben wir mit dem Satz: Gute Kunst, gute Gesellschaft und sehr, sehr gutes Wetter.“ Womit nicht 13 Grad gemeint sind. Der Festivalname bezieht sich auf die durchschnittliche Wassertemperatur der Weser – baden gehen will das 15-köpfige Festivalteam daher lieber nicht.

In Blumenthal ist das Unkonventionelle nicht die Ausnahme. Die etwa 200 dafür verantwortlichen, vor allem norddeutschen Künstler sollen auch Gagen erhalten, die Verantwortlichen arbeiten ehrenamtlich. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Finanznot und als Anfangsinvestition für die kommenden Festivaljahre. Wisotzki verdient ihren Lebensunterhalt mit einer halben Stelle als Dramaturgin beim Hannoveraner Theaterformen-Festival, Windheuser gibt Saxofon- und Klarinettenunterricht, erledigt zudem die Öffentlichkeitsarbeit des Oldenburger Programmkinos Cine K. An der Hunte haben beide auch die Grundlagen des spartenübergreifenden 13-Grad-Konzeptes mit dem Freifeld-Festival erkundet. 2013 und 2014 wurde die vor sich hin modernde Donnerschwee-Kaserne revitalisiert. Dann kamen Investoren und bauten Wohnungen. In Oldenburg war der politische Wille nicht gegeben, ein anderes Gelände als Freifeld zu öffnen. Aus der Hansestadt kam der Hinweis auf die BWK.

Also Umzug. Und Erstaunen. „Die Bremer Szene ist gut vernetzt, man geht hier weniger konkurrierend, eher kollegial miteinander um“, so Wisotzki. Weswegen auch das Bremer „Anderswo“-Kollektiv den 13-Grad-Konzertreigen mit kuratiert hat. Ansonsten gilt für das Programm: „Es muss uns gefallen“, betonen die Macherinnen. 80.000 Euro haben sie aus staatlichen Fördertöpfen dafür akquiriert sowie bei Sponsoren und Stiftungen eingeworben. 0 Euro spendiert übrigens der Bremer Kultursenator. Das BWK-Gelände muss allerdings nicht teuer angemietet werden, sondern es gibt sogar noch 10.000 Euro vom Wirtschaftssenator zum Bespielen – als PR-Maßnahme zur Vermarktung des Gewerbegebietes. 18 der 26,6 Hektar großen Fläche seien bereits vergeben, war auf der jüngsten Sitzung des Beirats Blumenthal zu erfahren. Würden demnächst auch die großen Hallen vermietet, wäre die kulturelle Zwischennutzung mit „13 Grad“ gleich wieder vorbei. Jetzt sollen aber erst mal 2.000 Teilnehmer kommen, damit die Festivalpremiere auch finanziell glückt. Werden 5.000 Tickets verkauft, kann „ausverkauft“ vermeldet werden.

31. 8. bis 1. 9., Infos unter www.dreizehngradfestival.de

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