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Archiv-Artikel

Mit Berlin geht der Picknickkorb durch

Egal, ob der Sommer schlecht oder schon vorbei ist: Das Vespern auf der Decke hat sich als Trend in Pop-, Kunst- und Theaterbetrieb eingeschlichen

VON JAN KEDVES

Wie das mit der Picknick-Schnitzeljagd in diesem Sommer eigentlich losging, ist nicht ganz klar. Kann sein, dass es daran lag, dass auf einem Plakat der Deutschen Guggenheim im Juni ein paar Fußballkumpels zu sehen waren, die auf einer Wiese um Pappteller und Fertigkuchen herumhockten. Oder daran, dass Matthew Herbert im Juli bei seiner „Plat du Jour“-Kochshow in der Arena ein Video vorführte, in dem er genüsslich mit einem Panzer über George Bushs Picknickdecke walzte. Irgendwann fing es jedenfalls an: Picknicks, überall Picknicks.

Sie poppten nicht nur in den Parks auf, sondern noch in allerlei anderen Kontexten. Auf der Kastanienallee zum Beispiel: Dort wussten zuletzt junge Menschen mit T-Shirts aufzufallen, die merkwürdige Versionen bekannter Bandlogos zeigten. „Picnic Enemy“ oder „PIC/NIC“ stand da zu lesen. Es ließ sich einfach herausfinden, dass diese Scherze auf das Konto einer Berliner Marke gehen, die sich „Picnic Industries“ nennt. Eine Firma, die es sich statt auf Picknickdecken auf dünnem Jersey bequem macht und sich dabei großzügig beim Trademark-Kapital alter Helden wie Public Enemy oder AC/DC bedient. Wie diese üblichen Fremden beim Picknick, die vorher niemand kannte, die dafür aber den größten Hunger mitgebracht haben. Wer wollte deswegen gleich pingelig werden?

Ebenfalls in der Kastanienallee – gar nicht weit entfernt vom Picknick-Lieferservice AnStadt in der Invalidenstraße – dann ein weiteres Fragment im Berliner Picknick-Puzzle: Dort, im Souvenirladen Kwikshop, gab es vor Kurzem auf einmal dutzendweise „Picknick und Liebe“ – einen CD-Sampler, der sich als Soundtrack für sommerliche Wiesen-Action versteht, aber auch sonst Parallelen zu Grundprinzipien des Picknicks aufweist. Denn stellt nicht das, was beim Picknick die Decke ist, auf die nur eine bestimmte Menge Köstlichkeiten passen, bei einem Sampler gewissermaßen die CD dar, die lediglich Platz für 74 Minuten Musik bietet? Auf „Picknick und Liebe“ drängeln sich demnach genau 19 Berliner Musiker und Bands, die nichts gemeinsam haben, außer dem Talent, sämtliche Reaktionsregister von „furchtbar“ bis „toll“ aufzurufen. So wie es beim Griff ins Picknickbuffet auch schon mal heißen kann „Igitt!“ oder „Hmm, lecker!“. Passt also.

Hatte man in diesem merkwürdigen Sommer erst mal eine mittelschwere Picknick-Paranoia entwickelt, kam prompt auch schon wieder einer dieser letzten Samstage im Monat: Seit längerer Zeit macht das Impro-Theaterprojekt Interpicnic mit schöner vierwöchiger Regelmäßigkeit Schaufenster und leere Ladenlokale unsicher. Die trashkomödiantische Schmusetiersoap „Humana – Leben in Berlin“ schafft bewusst offene – gewissermaßen also picknickartige – Theatersituationen, klappt sich wie ein Picknickkorb mal hier, mal dort auf – in Mitte, in Friedrichshain, in Kreuzberg. Die Vorführung kostet keinen Eintritt, das Publikum setzt sich einfach dazu. Picknick-Style.

Aus welchen Gründen das Picknick nun ausgerechnet in diesem Sommer den Transfer zum Multimedia-Pop-up vollzogen hat, darüber lässt sich nur mutmaßen. Das Wetter wird als Grund wohl kaum ausreichen. Eher könnte es daran liegen, dass die Grundidee des Picknicks ganz gut in eine Zeit passt, in der viel von Flexibilität geredet wird und man nie so ganz weiß, wie lange man dort, wo man gerade sitzt, noch sitzen bleiben kann. Warum sollte man das nicht auch ein bisschen romantisieren dürfen?

Simpler wäre es allerdings, festzustellen, dass der Begriff Picknick einfach gut nach Berlin passt: War nicht zumindest die Clubszene der Stadt die längste Zeit eine Serie von nächtlichen Picknicks, bei denen die Dancefloors wie Decken mal hier, mal dort ausgerollt wurden?

Die Schnitzeljagd endete jedenfalls vorerst damit, dass jemand erzählte, dass sogar in Berliner Museen längst gepicknickt werde. Tatsächlich: Eine Gruppe von Berliner Künstlern und Kunsttheoretikern hat vor drei Jahren damit begonnen, eine blaue Thermo-Kühlbox in den Kunstbetrieb einzuführen. Wenn diese, gefüllt mit Kunst und Kulinarischem, für eines der so genannten „Discursive Picnics“ in ein Museum einzieht, treten dessen Gesetze augenblicklich außer Kraft: Der Eintritt ist frei, die Verköstigung ebenso, Beiträge von Besuchern, egal ob künstlerischer oder nahrhafter Natur, sind ausdrücklich willkommen. Kurz: Unwetter – so nennt sich die Gruppe – will die Rollen von Host, Gast, Künstler oder Konsument aufweichen.

Letztes Jahr bei der „Berlin North“-Ausstellung wollten das gleich so viele Leute miterleben, dass irgendwann die Türen geschlossen werden mussten. Und nach Gastspielen in Liverpool und Sydney wird es bald wieder so weit sein: Im Rahmen des zweiten Berliner Kunstsalons Ende September plant die Unwetter-Gruppe, in ihrem Set-up aus Decken, Kühlboxen, Videomonitoren und Aktenordnern die Projekte der NGBK zu präsentieren und dabei wieder zwei „Discursive Picnics“ zu veranstalten.

Die Picknick-Saison wird dann zwar längst vorbei sein. Doch nach diesem Sommer sollte man begriffen haben: Für ein Picknick braucht es weder Wiese noch Sonnenschein. Zumindest nicht in Berlin.

www.picnicparadise.com,www.kwikshop.de, www.interpicnic.de,www.un-wetter.net