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Fragwürdige Subsumtion

Der US-Politologe Mark Lilla beschäftigt sich in seinem nun ins Deutsche übertragenen Buch „Der Glanz der Vergangenheit“ mit reaktionären Philosophien

Lilla verschweigt, dass Franz Rosenzweig dem Liberalismus verpflichtet war

Von Micha Brumlik

Nachdem erst kürzlich aus der Feder des Basler Philosophen Gunnar Hindrichs eine „Philosophie der Revolution“ erschien, liegt jetzt eine „Philosophie der Reaktion“ vor, die der neue Shootingstar der US-„intellectual history“, der an der Columbia University in New York lehrende Mark ­Lilla verfasst hat. Lilla wurde zuletzt vor allem dadurch bekannt dass er – mit polemischen Untertönen – US-Linke dafür kritisierte, zu sehr die horizontale, die anerkennungsbezogene Ungleichheit von Minderheiten – Schwarze, LGBT – bekämpft und darüber den Abbau der vertikalen Ungleichheit im Bereich der Einkommen vernachlässigt zu haben. Das jedenfalls war Lillas Erklärung für das Umschwenken der weißen working class der USA zu Donald Trump.

Reaktionär ist nicht gleich konservativ

Sein neuer, mit einem Vorwort von René Scheu, Leiter des Feuilletons der Neuen Zürcher Zeitung, auf Deutsch publizierter Band trägt den Titel „Der Glanz der Vergangenheit. Über den Geist der Reaktion“. Die mit „Der schiffbrüchige Geist“ betitelte Einleitung enthält die Botschaft des Buches in nuce: „Reaktionäre sind nicht mit Konservativen gleichzusetzen. Das ist der erste Unterschied, den man kennen muss. Reaktionäre sind auf ihre Weise genauso radikal wie die Revolutionäre, und wie sie hat die historische Mythenbildung sie fest am Wickel. Die zeitenwendende Erwartung einer neuen sozialen Ordnung oder eines verjüngten Menschen zeichnet die Revolutionäre aus, apokalyptische Ängste vor dem Heraufdämmern eines neuen dunklen Zeitalters die Reaktionäre.“

Zwar erwähnt Lilla in diesem Zusammenhang einen ausgesprochen konterrevolutionären katholischen Autor wie Joseph de Maistre, einen Gegner der Französischen Revolution, doch befasst sich sein Buch vor allem mit drei, etwa einhundertundfünfzig Jahre später wirkenden deutschen Philosophen, Juden und Flüchtlingen, die während der NS-Zeit in die USA emigrierten: Mit dem bereits 1929 verstorbenen Franz Rosenzweig, mit Leo Strauss sowie dem weitgehend unbekannte Eric Voegelin sowie mit islamistischen und auch christlichen Fundamentalismen.

Dabei gelingt es Lilla überzeugend, Leo Strauss – dem es vor allem um eine Rehabilitierung der klassischen griechischen Philosophie und die Entfaltung des Gegensatzes von griechischem und biblischem Denken, von Rom und Jerusalem ging – von dem Vorwurf, ein Meisterdenker des Kalten Krieges gewesen zu sein, zu befreien. Ganz unbegründet war dieses Gerücht freilich nicht: Viele führende Intellektuelle des Kalten Krieges, nicht selten vormals Trotzkisten, waren Schüler des in Chicago lehrenden Leo Strauss.

Mehr noch: Strauss wurde sogar als einer der geistigen Urheber von George W. Bushs Zweitem Irakkrieg denunziert. Indes, „Der Verdacht“, schreibt Lilla, „der im Zusammenhang mit dem Zweiten Irakkrieg auf Leo Strauss fiel, war völlig unbegründet und durch nichts gerechtfertigt.“ Vielmehr kann Strauss, der den Niedergang der politischen Philosophie der 1930er mit der Zunahme eines allgemeinen Werterelativisms erklärte, als jener Denker gelten, der einem naturrechtlichen Verständnis menschlicher Würde das Wort redete.

Anders das im Einzelnen kaum überschaubare Werk Eric Voegelins: Es auch nur zu skizzieren, ist kaum möglich. Immerhin stellt der Autor Eric Voegelins noch immer aktuelle Analyse des Nationalsozialismus als einer politischen Religion anschaulich dar. Minder gelungen ist dann jedoch sein Versuch, seinen amerikanischen LeserInnen die Philosophie Franz Rosenzweigs – vor allem dessen Hauptwerk, den 1921 publizierten „Stern der Erlösung“ – vorzustellen. So sehr es Lilla gelingt, die gewundenen Gedankengänge Rosenzweigs einem derartigen Werken völlig entfremdeten Publikum nahezubringen, so sehr verwirrt jedoch Rosenzweigs Einordnung als „Reaktionär“.

Gewiss: Betrachtet man Rosenzweigs „Stern“ als Manifest eines jeder Geschichtsphilosophie abholden gläubigen Judentums, könnte dieser Eindruck zutreffen. Freilich erwähnt Lilla mit keinem Wort, dass Rosenzweig, der über Hegels Geschichtsphilosophie promoviert wurde, sich politisch, sofern er nicht als Jude, sondern als Deutscher schrieb, dem expansionistischen Liberalismus eines Friedrich Naumann verpflichtet sah. Und so sehr Lilla zuzustimmen ist, dass der Rosenzweig des „Stern“ kein Zionist war, so sehr gilt doch auch, dass sich der späte Rosenzweig mehr und mehr zum Zionismus hingezogen sah.

Der Band, aus locker und anschaulich geschriebenen Essays für die New York Review of Books hervorgegangen, kann eine ernsthafte Lektüre der angezeigten Werke nicht ersetzen und weist zudem den einen oder anderen ärgerlichen Übersetzungsfehler auf – etwa, wenn John Dewey, ein Philosoph des US-Pragmatismus – fälschlicherweise als „Pragmatiker“ und nicht als „Pragmatist“ bezeichnet wird.

Warum die deutsche Übersetzung in der Schweiz publiziert wurde, lässt sich vermuten. Gewiss auch deshalb, weil dort der reaktionäre Rechtspopulismus mit der SVP und ihrer Führungsfigur Christoph Blocher seine ersten Erfolge feierte.

Mark Lilla: „Der Glanz der Vergangenheit. Über den Geist der Reaktion“. Herausgegeben von René Scheu. Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl. NZZ-libro, Zürich 2018, 142 S., 29 Euro

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