berliner szenen: Die Leitung ist wohl undicht
Den ganzen Tag sitze ich schon zu Hause und überlege: Eigentlich wäre es irrsinnig, meinen Fernseher zu M. zu schleppen. Das Gerät ist schwer, ich wohne im fünften Stock und die Wohnung des Freundes ist anderthalb U-Bahnstationen weg. Andererseits ist es ein besonderer Abend, es gibt Fußball-WM und E. aus Westdeutschland wird auch dort sein und es wäre eine Schande, das Spiel auf M.s kleinem Monitor anzugucken. Er stört sich zwar selber nicht an seinem kleinen Bild und E. stört sich auch nicht daran, aber ich werde dafür sorgen, dass wir ordnungsgemäß Fußball gucken.
Während ich mich mit dem Fernseher abmühe und dabei in meinem Kopf zum Gespött der anderen Passanten werde, überlege ich, ob es nicht doch etwas übergriffig ist, mit meinem Fernseher in M.s Wohnung einzudringen. Immer wieder ändere ich beim Schleppen die Trageposition oder nehme mir vor, den Fernseher erst an der Ampel (da hinten, am Horizont) abzusetzen. Aus dem Prinzenbad tönt Discomusik, zwei stämmige Frauen laufen händchenhaltend vorbei. Kesse Väter sagt heutzutage auch niemand mehr.
Wenig später stehe ich in M.s Wohnung, stöpsele den Fernseher ein, lasse ihn die verfügbaren Sender suchen. Leider ist das Bild nicht wirklich gut. Vielleicht hab ich den Fernseher beim Transport kaputt gemacht; vielleicht hat M. in Wirklichkeit gar keinen Kabelanschluss und die Leitung ist irgendwie undicht, so dass man trotzdem noch etwas sieht, aber nicht so gut. Du könntest ja mal bei deiner Betreuungsstelle fragen, ob du tatsächlich einen Kabelanschluss hast. Er sagt ja, aber es ist schon klar, dass er niemals fragen wird. Eine Weile wird mein Fernseher noch bei M. wohnen bleiben, denn nochmal schlepp’ ich den so schnell nicht wieder. Aber wir sind trotzdem nicht richtig zufrieden.
Detlef Kuhlbrodt
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