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Sinnlicher Sommer

Sehen ist out. Fühlen, hören, träumen sind die neuen Wahrnehmungsmodi in der sommerlichen Tanz- und Performance-Welt, zum Teil sogar im Schlaf. Unter anderem zu erleben in der Ruine der Klosterkirche

Von Astrid Kaminski

Tanz ist fast alles. Das macht diese Kunst so schwierig und so interessant. Sie ist wandlungs- und anpassungsfähig wie ein Idealmigrant. Bei Pina Bausch (in deren Tanztheater in Wuppertal gerade unklar ist, wie es weitergeht) war Tanz auch Theater, in der Konzeptbewegung ab den 90er Jahren war Tanz auch Denken, im Museum ab den späten Nullerjahren changiert Tanz zwischen immateriell und „embodiment“, und ansonsten ist Tanz gegenwärtig alles, was sich bewegt oder Bewegung hervorbringt, was Schwerpunkte und Fokusse verlagert. Körper kann Tanz sein, Beziehung, Konflikt, Utopie, Revolution kann Tanz sein. Transition ein Tanz, Objekt­ontologie ein Tanz, Bewusstsein ein Tanz.

Hierarchien sind in dieser Kunst mit mobilen Spartengrenzen immer schon ein heikles Thema. Wenn sich mehrere Menschen bewegen, dann repräsentieren sie ihr Verhältnis untereinander genauso wie jegliche gesellschaftspolitische Dominanzen und Codices, die sich an Gender, Hautfarbe, Alter, BMI, Fitnessgrad, Kleidung und so weiter ablesen lassen. Daran, Diversität und Horizontalität darzustellen, wurde und wird sich daher intensiv abgearbeitet. Nun aber gilt es, und zwar durchaus noch resoluter als in der Bildenden Kunst, eine weitere Hierarchie und damit wiederum all die bisherigen Betrachtungsweisen in Frage zu stellen: die des Sehens. Nicht mehr das Auge soll das zentrale Organ sein, wenn es darum geht, Tanz zu bezeugen, sondern möglichst alle anderen Sinne. Vor allem das Hören und Fühlen haben derzeit Konjunktur. Und wie oft, wenn eine sinnliche Affäre am Anfang steht, geht es dabei meist sehr charmant, nicht selten kuschelig und zuweilen mit einer Portion glücklicher Naivität zu.

Im Performance-Programm der Gropius-Bau-Ausstellung „Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er Jahren“ führt Maria F. Scaroni durch einen „Small Dance“ der Postmodern-Ikone Steve Paxton. Hinter geschlossenen Augen wandern wir mit Hilfe der Vorstellung durch den Körper, erfahren die Länge der Wirbelsäule durch vorgestellte Ja- oder Nein-Bewegungen des Kopfes, üben die Effekte kleiner innerer Kompressionen und finden uns letztlich blind im großen Kreis wieder. Zwei Wochen später bei Thomas Proksch beginnen wir im Kreis und lassen Herzklopfen und Pulsschläge per Händedruck die Runde machen, bevor wir auf angedickte Yogamatten sinken und bei Dämmerlicht dem Schlagen von balztanzartig eingesetzten Plastik-PomPoms lauschen.

Im HAU Hebbel am Ufer wird die Spielzeit unter anderem durch Laurent Chétouanes „Invisible Piece #1“ beschlossen, eine ebenfalls dämmerlichtige Angelegenheit, bei der Mikael Marklund und Tilman O’Donnell wie Spürhunde tanzen, die den Ohren statt der Nase nachgehen und dabei die Musik, nach der sie sich bewegen, durch das Lauschen auf Impulse erst selbst hervorbringen. Ich konnte in diesem Fall aber nur eine (magische) Probe verfolgen.

Wobei das Probenhafte, zumindest das Unabgeschlossene so mancher sinneserweiternder Arrangements durchaus einen Teil ihres Charmes ausmacht. Da wird nicht behauptet, den Schlüssel zur Kunst neu erfunden zu haben, sondern ausprobiert. Nicht vorgeführt, sondern erfahren. Eher vorsichtig als vereinnahmend, eher sehnsüchtig als überzeugt, eher sacht als mit Krach. Dass dies nicht nur eine Berliner Angelegenheit ist, zeigte sich kürzlich bei einem Abstecher zum Athens & Epidaurus Festival: Mitten in Athens Fußgängerzone geriet ich in einem „Performance Shop“ (Lia Haraki) in einen traumwandlerischen Haut-an-Haut-Parcours.

Ebenso überraschend ist ein derzeitiges Setting an der Klosterruine hinterm Berliner Alex. Der Tendenz folgend, dass Performance sich im „Environment“ statt im Theater abspielt, werden unter dem Titel „The Dead Are Losing Or How To Ruin An Exhibition“ jeweils samstags und meist Open Air Performances präsentiert, die sich an gängigen Präsentationsformaten erst gar nicht messen. So entwickeln Henry Wilde, ehemalige Choreograf*in und angehender Komponist, und Neo Hülcker, praktizierende Komponist*in, ein „Tentaculus Ohri“. Dabei trägt die Zuhörerin eine Eulenmaske und ein Pappröhren-Headset, in dessen Enden die Performer*innen eine Klanggeschichte „anderer Natur“ flüstern, schnalzen, tröten oder auch mal mit leeren Gummihandschuhen flattern.

Letztes Wochenende dann konnte von Sonnenuntergang bis -aufgang auf Schaumstoff und unter Umzugsdecken gelagert werden. Bei Fledermausflügen, Krankenwagensirenen, Betrunkenengegröle, Sternenhimmel und einer atmosphärischen Text-Assemblage aus dem Umkreis des spekulativen Materialismus sollen in „Useless Land“ von Catalina Insignares & Carolina Mendonça auch Schlafen und Träumen als probate Wahrnehmungsmodi gelten. Und tatsächlich: Irgendwann fangen die Mauern der Klosterruine an zu sprechen.

„The Dead Are Losing Or How To Ruin An Exhibition“ noch bis zum 18. 8., jeweils samstags

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