berliner szenen
: Wirklich sehr, sehr hübsch

Kerstin Hensel eröffnet eines ihrer Gedichte mit der Zeile „Marzahn frisst, säuft und kotzt Bulette“, und vielleicht ist damit auch schon alles gesagt. Marzahn, warum ausgerechnet Marzahn? Sagt man es in größerer Runde, gibt es immer einen, der dar­auf hinweist, dass sich dieser Bezirk aber auch einen schönen dörflichen Kern bewahrt habe, kleine Häuser, wirklich sehr, sehr hübsch, und dann denke ich immer, dass daran irgendetwas nicht richtig ist, weil es ein „sehr“ zu viel ist und „hübsch“ kein Wort, das derjenige sonst gebraucht. Und dann denke ich jedes Mal mit der gleichen wiederkehrenden Penetranz: Was sollen die paar schönen Häuser, wenn der Rest der letzte Husten ist.

Marzahn ist der Bezirk mit den meisten Privatinsolvenzen, mit den wenigsten Übernachtungsgästen, mit der geringsten Aufenthaltsdauer von Übernachtungsgästen, was vielleicht darauf hindeutet, dass der Marzahner durchaus Menschen außerhalb von Marzahn kennt, sie zu sich einlädt, doch schlafen müssen sie nicht in ihrer Wohnung, und deshalb bleiben sie vielleicht auch nicht so lange. Warum nicht, denke ich, nachdem A., mit dem ich zum Fotografieren verabredet bin, vorgeschlagen hat, dorthin zu fahren. Wir steigen am Helene-Weigel-Platz aus. Die Blöcke stehen in Reih und Glied, die Sonne scheint auf das Flachdach eines verlassenen Kinos, und fast keine Menschen. Es müssen hier Tausende leben, wir gehen stundenlang umher und fotografieren. Wo sind die alle?

Als wir zurückwollen, sehen wir einen Mann, der in einem Rollstuhl sitzt, neben ihm seine Frau auf einer Bank. Sie gucken geradeaus und reden nicht. „Entschuldigung“, sagen wir, „wo ist denn hier die nächste Bushaltestelle?“ Der Typ sieht uns an, als hätten wir sein Wohnzimmer verwüstet, und sagt: „Weeß ick nich!“

Björn Kuhligk