Der Macht auf der Spur

Die Kunsthalle Osnabrück lädt mit der eigenwilligen Retrospektive des Künstlers Christoph Faulhaber zum selbsttätigen Bilder-Füllen ein – und zeigt ein Bällebad im Kirchenschiff

Bällebad mal nicht im Möbelhaus: Im Kirchenschiff der Kunsthalle Osnabrück hat Faulhaber 70 Plastikbälle drapiert l Foto: Angela von Bril

Von Robert Matthies

Ein bisschen fühlt man sich wie im berühmten Bällebad eines schwedischen Möbelhauses: 70 drei Meter große aufblasbare Kunststoffbälle in Rot, Blau, Grün und Orange hat Christoph Faulhaber im Kirchenschiff der Kunsthalle Osnabrück drapiert. Ein paar von ihnen lassen sich herumkullern, die anderen hat Faulhaber an den hohen Wänden zu Bälle-Gebirgen übereinandergestapelt.

Spektakulär sieht die eigens für diesen ungewöhnlichen Kunstort entwickelte Installation aus. Ganz ohne Vorwissen kann man das unmittelbar sinnlich auf sich wirken lassen. Klein fühlt man sich dann inmitten der großen Bälle, unter der 21 Meter hohen Decke, unheimlich hallen die eigenen Schritte im sonst leeren Kirchenschiff: eine merkwürdige Mischung aus ortsspezifischer und, nun ja, riesengroß aufgeblasener konkreter Kunst.

Dass es Faulhaber dabei weniger ums spektakulär-spielerische Kunstvergnügen oder eben um rational und mathematisch begründete, nicht-gegenständliche Kunst geht – um die Konkretion von rein Geistigem also –, macht aber spätestens der ebenfalls riesengroß aufgeblasene Titel der Ausstellung klar: „Revolution und Architektur“ hat der seit 20 Jahren in Hamburg lebende gebürtige Osnabrücker die Schau genannt, „#1 Paradies“ heißt das Bällebad im Kirchenschiff.

Aufgeblasene Kunst

Mit ein bisschen Vorwissen eröffnet sich denn auch eine Überfülle von Bedeutungen und Bezügen zu Raum und Thema. Ganz konkret zunächst: Jede*r Osnabrücker*in erinnert sich an den Osnabrücker Friedrich Vordemberge-Gildewart, einen der Mitbegründer der konkreten Kunst und gefeierter Sohn der Stadt.

Vor drei Jahren setzte sich die Ausstellung „Konkret mehr Raum“ in der Kunsthalle auf Vordemberge-Gildewarts Spuren mit geometrischen Gestaltungsformen in Kunst und Architektur auseinander. An der Fassade visualisiert seitdem die „Gildewart Line“ des portugiesischen Installationskünstlers Pedro Cabrita Reis die Auseinandersetzung mit dem Konstruktivisten.

Zugleich spielt Faulhaber auf die Geschichte des außergewöhnlichen Kunstortes im Kirchenschiff an: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, während der Napoleonischen Kriege, wurde das damalige Dominikanerkloster säkularisiert, diente von 1803 bis 1805 den französischen Besatzungstruppen als Exerzierhalle und Magazin.

Machtvolle Bildräume

Und deren 1804 gekrönter Kaiser Napoleon wiederum machte aus seiner Abneigung gegen die Idee des revolutionären Kugelbaus keinen Hehl, der als Ikone für die radikale Imagination von Vollkommenheit, kosmischer Universalität und allseitiger Symmetrie zentraler Bestandteil der jakobinischen Bildsprache für die revolutionäre Volkssouveränität war. Ein ganz neues Bild von Machtverhältnissen steckte ja darin: Statt einer Pyramide, über der eine Spitze thront, kennt die Kugelform kein Oben mehr, sondern ein Zentrum, zu dem jeder Punkt der Kugeloberfläche denselben Abstand hat.

Solchen Bedeutungsspuren zu folgen, Bildräume zu interpretieren und noch mal zu interpretieren, zu entziffern, welche Botschaften in Alltagsgegenständen, in öffentlichen Räumen mit ihren Fassaden und Architekturen stecken: Das ist Faulhabers zentrale künstlerische Frage. Welche gesellschaftlichen Implikationen, welche Machtverhältnisse drücken sich in ihnen aus? Wer bekommt wie viel Raum? Und wer erhält Einblicke in Räume?

Auch die zweite, eigens für die Ausstellung entstandene Arbeit im Foyer, „Kurie“ heißt sie, nimmt Bezug auf den Ausstellungsort: Lauter für sich selbst ganz unscheinbare Zimmerpflanzen stehen da ebenfalls hübsch drapiert unter wachstumsförderndem Licht. Eine Anspielung auf das ökologische Selbstverständnis Osnabrücks, das Sitz der Deutschen Bundesstiftung Umweltschutz ist und vollständig von einem Naturschutzpark umgeben. Ein Kunstwerk zum Kompostieren – ganz anders als die bunten Bälle aus in China gefertigtem, unkaputtbarem Plastik nebenan.

Und zugleich ein Verweis auf das Fehlen eines ausgedehnten Kunstsammlerwesens in der Stadt: Alle Topfpflanzen sind Leihgaben aus Osnabrücker Wohnzimmern, die nun in der Obhut der Kurator*innen temporär zu Kunstobjekten werden. Und damit – ganz genauso wie der vor Kurzem beim Live-Art-Festival auf Kampnagel aufgebaute „Garden State Hamburg“, der ebenfalls aus rund 300 Topfpflanzen Hamburger Bürger*innen bestand – auch die Frage nach einer anderen, nämlich demokratischen Einbindung des Publikums für Kunst stellt.

Rätselhafte Retrospektive

Sucht Botschaften in Alltagsgegenständen: Christoph Faulhaber Foto: Angela von Brill

Dem allerdings macht es Faulhaber im Rest der Ausstellung, die einer Retrospektive seiner Arbeit seit 2000 gewidmet ist, nicht wirklich leicht, Einblicke in seine Kunsträume zu bekommen. Denn in den Fluren des Kreuzgangs sind vor allem Zeitungscollagen, Objekte und architektonische Modelle aus dem Archiv Faulhabers zu sehen, die auf den ersten Blick rätselhaft bleiben, weil sie im Zusammenhang jener Aktionen im öffentlichen Raum entstanden sind, für die Faulhaber berühmt – und berüchtigt – ist.

Als fiktiver Sicherheitsdienst „Mister Security“ etwa hat er gemeinsam mit Lukasz Chrobok in den Jahren 2004 bis 2006 Botschaften und Konsulate der USA in Deutschland und Polen „gesichert“ – und die Aktionen und Reaktionen der Sicherheitsbehörden dokumentiert. 2009 besuchte Faulhaber die Baustelle der neuen Niederlassung des Bundesnachrichtendienstes in Berlin, spähte mit Leiter und Kamera über die hohe Mauer um die Baustelle und übertrug die Bilder live ins Internet. 2001 bereits setzte sich Faulhaber in einem selbst geschneiderten Anzug im typischen Karomuster der Modemarke Burberry vor deren Läden und bettelte.

Auch Faulhabers „Phantom of Punk“ – eine Aufführung des Musicals „Phantom der Oper“ in der historisierenden Verdeckung der 2015 renovierten Fassade der Hamburger Roten Flora – kann man noch mal in Fernsehberichten erleben, im Innenhof ein Gerüst mit der Fassade sehen, im Kreuzgang ein Modell des besetzten Zentrums.

All das erschließt sich aber erst wirklich, wenn man die in 15 Sequenzen unterteilte autobiografische Videoarbeit „Jedes Bild ist ein leeres Bild“ gesehen hat, in der Faulhaber – unterbrochen von fiktiven Szenen als Protagonist des Computerspiels „Grand Theft Auto IV“ – seine Aktionen dokumentiert und Überlegungen zur politischen und künstlerischen Dimension von Bildern anstellt.

Am zugänglichsten ist dabei noch Faulhabers Rekonstruktion der Rekonstruktion des berühmten verschollenen Bernsteinzimmers. Das nämlich hat er mit einem Material nachgebildet, das dem fossilen Harz ganz ähnlich ist: geronnenes Nasensekret, also Popel.

bis 21. Oktober, Kunsthalle Osnabrück