Wenn das Heimatgefühl wieder einrastet

Jan Böttcher schickt seinen widerwilligen Helden zurück in die Kleinstadt, aus der er kam: „Das Kaff“. Schließlich entfaltet der Fußball kathartische Wirkung

Hier wurde schon länger nicht gekickt. Bolzplatz nahe Lüneburg Foto: Jakob Börner/plainpicture

Von Christoph Schröder

Die Heimkehr wider Willen in den Ort, das Dorf, die Kleinstadt der Kindheit ist ein beliebtes Erzählmuster. In den meisten Fällen ist die Rückbewegung von einem urbanen in einen nichturbanen Raum begleitet von abwertenden Beschreibungen oder unangenehmen Erinnerungen, die nicht selten am Klischee entlangschrammen. Signifikant für die klischeehafte Darstellung ländlicher Räume sind Vokabeln wie „eng“, „dumpf“ oder „spießig“.

Jan Böttcher wurde in Lüneburg geboren, einer Stadt mit 75.000 Einwohnern, die sich nur mit viel Fantasie als dörflicher Raum denken lässt. Seine Debüterzählung handelte vom Aufwachsen in einer Hochhaussiedlung am Rande einer Stadt, die schon im Titel „Lina oder: Das kalte Moor“ auf die über die Region hinaus verrufene Hochhaussiedlung Kaltenmoor im Südosten Lüneburgs anspielt. Böttchers neuer Roman nennt zwar den Namen seines Schauplatzes nicht, doch ist es kaum zu verhehlen, dass Böttcher darin zurückkehrt zu seinen biografischen Anfängen. Böttcher versucht erst gar nicht, Stereotype im Hinblick auf die Darstellung nichturbaner Verhältnisse zu vermeiden; im Gegenteil – er donnert sie uns in voller Absicht und ungefiltert von Beginn an um die Ohren. Oder genauer gesagt: Er hat sich einen Protagonisten und Ich-Erzähler ausgedacht, der in vollendeter Unreflektiertheit seine Projektion eines rückständigen Milieus ausbreiten darf, um dann von der Wirklichkeit revidiert zu werden.

Jan Böttcher: „Das Kaff“. Aufbau Verlag, Berlin 2018, 268 Seiten, 20 Euro

Michael Schürtz heißt er, ist Anfang 40 und von Beruf Architekt. In seine Heimatstadt, in das Kaff, kehrt er zurück, weil er dort die Bauleitung für ein Apartmenthaus übernommen hat. Michael Schürtz, stolz auf seine Designerjeans und seine rahmengenähten Schuhe, blickt mit kalter Verachtung auf seinen Herkunftsort herab. Das Haus seines alten Schulfreunds Gregor, in dem er sich einquartiert, während dieser mit seiner Familie auf Reisen ist, „atmet noch die Enge der Nachkriegszeit“. Die regionale Tageszeitung, von Michael nur „Käsblatt“ genannt, „ist unverändert, dasselbe Layout, derselbe Mangel an Anspruch, der einen schon als Jugendlicher eingeschläfert hat“.

Böttcher installiert seinen Ich-Erzähler als arroganten Snob. Authentisch dargestellt mag diese Figur möglicherweise sogar sein, aber eben deshalb bleibt sie auch merkwürdig flach, denn das, was Michael Schürtz beobachtet, registriert und kommentiert, ist nicht sonderlich originell. Die Investoren des Bauprojekts sind skrupellose Machtmenschen, die ihre Handwerker ausbeuten und die Provinzbevölkerung übervorteilen. Und nach und nach blättert Schürtz in seinen Erinnerungen auch die Familiengeschichte auf: Die vor 17 Jahren gestorbene Mutter, die mit ihren Kaffeetafeln zum Zentrum einer Weiberklatschrunde geworden war. Nuss, der wichtigtuerische Bruder; Jul, die ewig gutmeinende Schwester. All das sind, objektiv betrachtet, Banalitäten, die aber streckenweise ziemlich unterhaltsam erzählt werden, auch wenn der Stoff nicht eben überraschend ist.

Dann kommt der Fußball ins Spiel. Wir wissen um die kathartische Kraft des Sports. Sie wirkt auch in diesem Fall. Denn Michael Schürtz war, bevor er das Kaff sang- und klanglos verlassen hat, um nach Berlin zu gehen, ein wichtiger Stützpfeiler der Mannschaft einer der beiden örtlichen Fußballclubs. Bei einem Besuch des Derbys der Rot-Weißen gegen die Blauen kommt in Michael ein Prozess in Gang. Die Passagen, in denen Böttcher vom Fußball erzählt, sind die besten des Romans, auch wenn sich darin Sätze finden wie „der Rasen hat sich gut gehalten“.

Der Ich-Erzähler als Snob. Eine Familiengeschichte blättert sich auf

Dass Böttchers Roman eine Anti­herkunftsfront aufbaut, um diese anschließend wieder einzureißen, ist recht schnell zu ahnen. Etwas, so scheint es, rastet ein in Michael Schürtz. Es ist aber nicht zu verhehlen, dass die Gegenbewegung, die der Roman vollzieht, psychologisch nicht weniger schematisch verläuft als die zuvor beschriebene Abgrenzung. Schürtz wird Jugendfußballtrainer, verliebt sich, trifft seinen alten Lehrmeister wieder und entwickelt das, was in den Berliner Jahren verloren gegangen ist – ein Heimatgefühl, wenn auch ein widerwilliges.

„Die wirklich Harten“, sagt Michael gegen Ende zu seiner Schwester, „das sind die anderen.“ Ein Satz, der die Figur in ihrem Anspruch und ihrer Selbsteinschätzung charakterisiert. Das ist sympathisch. Ob es literarisch gelungen ist, ist die andere Frage.