crime scene
: Ein System, in dem Hierarchie alles ist

Japans Kaiser Hirohito starb im 64. Jahr seiner Amtszeit. Nach dieser kaiserlichen Zeitrechnung (allgemeiner gesprochen handelt es sich um das Jahr 1989) bezeichnet die Polizei der Präfektur D, eines Provinzdepartments, auch einen spektakulären Kriminalfall, der nie aufgeklärt wurde: Ein siebenjähriges Mädchen war im Jahr 64 entführt und trotz Lösegeldzahlung ermordet worden. 14 Jahre später quälen sich viele Polizisten immer noch mit dem Fall. Auch Yoshinobu Mikami, ein einstiger Kriminalbeamter und Detektiv, der inzwischen als Direktor der Presseabteilung arbeitet, lässt die Erinnerung an „64“ nicht los – um so mehr, da vor einigen Monaten auch seine eigene Teenagertochter verschwunden ist.

„64“ ist kein Thriller, auch wenn diese Genrebezeichnung dick aufs Cover gedruckt wurde. In Japan ist der Roman ein Bestseller gewesen. Bei der hiesigen Rezeption ist eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der Reaktion der „professionellen“ Leserschaft in den Feuilletons und jener des sogenannten Lesepublikums festzustellen. Erstere raunt von „Weltliteratur“ (stört sich aber offenbar nicht daran, dass es sich bei der deutschsprachigen Ausgabe nur um eine Übersetzung aus dem Englischen handelt), Letztere ärgert sich zum Beispiel auf der Website eines bekannten Versandhändlers darüber, einem Etikettenschwindel aufgesessen zu sein.

Wenn man erwartet hat, einen Thriller in Händen zu halten, kann „64“ nämlich eine quälend langwierige Lektüre werden. Tatsächlich wird auf den letzten 50 Seiten der „64“-Fall doch noch gelöst – allerdings auf eine kriminalistisch wenig einleuchtende, dafür symbolisch hoch aufgeladene Deus-ex-Machina-Art, die deutlich macht, dass es hier keineswegs in erster Linie um die kunstvolle Aufdröselung eines Rätsels geht, sondern um etwas anderes.

Auf dem großen Rest der knapp 800 Seiten wird vor allem gezeigt, wie ein Mann in einem großen Verwaltungsapparat Machtkämpfe auf verschiedenen Ebenen auszufechten hat. In diesem System, worin „Hierarchie alles ist“, wie es an einer Stelle heißt, muss Pressedirektor Mikami mit der verdeckt schwelenden internen Konfrontation zwischen der Verwaltungseinheit der Polizei und der Ermittlungsbehörde auseinandersetzen. Außerdem ist er an die vorderste Front in einem seltsam erbitterten Konflikt mit dem „Presseclub“ geraten, der Vereinigung der akkreditierten Polizeireporter, die nicht hinnehmen wollen, dass die Polizei die Namen von Menschen zurückhält, die an einem Unfall mit tödlichem Ausgang beteiligt waren.

Zu Hause sitzt derweil Mikamis Frau Minako und wartet darauf, dass ihre verschwundene Tochter anruft. Das Privatleben Mikamis ist noch deprimierender als sein Berufsleben – in dem er sich immerhin so manche Freiheit nimmt, an bestehenden Hierarchien vorbeizu­agieren. Das Eheleben besteht vor allem darin, dass seine Frau (die ihre Arbeit als Polizistin mit der Heirat aufgegeben hatte) ihren Gatten ergeben mit Essen versorgt und seine Schuhe täglich auf Hochglanz poliert. Über ihre Ängste und Befürchtungen, was die verschwundene Tochter betrifft, kann das Paar nicht sprechen.

Zu Hause poliert derweil die Ehefrau seine Schuhe auf Hochglanz

Am Ende werden gewissermaßen alle Knoten auf einmal platzen, was tatsächlich eine große Erleichterung ist – und eine Belohnung für alle, die bis dahin ehrlich durchgehalten haben. Dass „64“ keine leichte Lektüre ist, liegt nicht nur daran, dass das zahlreiche Personal, meist nur mit Namen und Rang vorgestellt, schlicht nicht auseinanderzuhalten ist (unwillkürlich stellt man sich eine Armee von gesichtslosen Männern in grauen Anzügen vor). Auch die Handlungsweisen der Personen sind aus anderem kulturellem Kontext heraus oft nur schwer verständlich. Zudem fehlt die selbstverständliche innere Visualisierbarkeit bestimmter Vorgänge.

Oder wie hat man sich einen Mann genau vorzustellen, der selbst dann, wenn er mit einem Vorgesetzten nur telefoniert, „formale Haltung“ einnimmt? Man erfährt auf diese implizite Art zwar durchaus eine Menge über die japanische Gesellschaft. Aber vieles, was unklar bleibt, hätte eine gute Direktübersetzung aus dem Japanischen möglicherweise genauer umschreiben können. Katharina Granzin

Hideo Yokoyama: „64“. Aus dem Englischen von Sabine Roth und Nikolaus Stingl. Atrium Verlag, Zürich 2018. 768 S., 28 Euro