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Charmante Klischees

Das Theater Kiel bringt erstmals Roland Schimmelpfennigs verträumtes Familienporträt „Die Straße der Ameisen“ auf eine deutsche Bühne: ein zauberhaft leichter Abend über Sehnsüchte und Wünsche

Von Katrin Ullmann

Eine Schneeflocke, mitten im Sommer, bei 35 Grad! Aus sternenklarem Nachthimmel sei sie gefallen, zum Fenster hereingeweht und „ganz sanft, ganz, ganz sanft, ganz sacht“ auf dem nackten Knie seiner Freundin gelandet. Die habe vor Schreck aufgeschrien – und die Flocke sei geschmolzen. Der junge Mann, der diese fantastische Geschichte erzählt, springt dabei auf, ein bisschen nervös und irritiert, vor allem aber begeistert und erregt. Drei Frauen – Großmutter, Mutter und Tochter – sitzen derweil auf einem schäbigen Blumenmustersofa und schütteln den Kopf. Sie gucken verlegen in die Luft, rutschen unruhig hin und her, schmunzeln, zucken mit den Schultern. In ihrem schlichten Leben wirkt diese Art von Poesie fehl am Platz.

Vermutlich hat der junge Mann da längst diesen magischen Kugelschreiber gefunden, der aus einfachen Worten grandiose Gedichte zaubern kann. Mit einem Paket war der gekommen, auf das der Großvater 42 Jahre lang gewartet hatte – letzterer jedoch wird das ganze Stück über nicht in Erscheinung treten. Das Stück „Die Straße der Ameisen“ hat Roland Schimmelpfennig geschrieben. Mit seinen karibischen Zwischentönen spielt es womöglich im kubanischen Havanna, Wahlheimat des deutschen Dramatikers und Ort der Uraufführung des Stücks – in Eigenregie. Die deutsche Erstaufführung übernimmt nun Ulrike Maack am Schauspielhaus in Kiel.

Nicht nur die omnipräsente Abwesenheit des Großvaters und die wundersame Schneeflocke im Sommer: In „Die Straße der Ameisen“ bleibt einiges ungeklärt, sind etliche Ereignisse wundersam und fantastisch – man assoziiert Márquez, Haratischwili, Almodóvar. Eine kleine Familienzirkus-Saga wird da erzählt – und von der ganzen Nachbarschaft: betrogene Ehefrauen, betrunkene Busfahrer, schöne Tomatenverkäuferinnen, uniformierte Polizisten, dicke Krankenschwestern, Prostituierte aus Geldnot und ein nachdenklicher, alter, trinkender Mann – der Großvater. Alle Klischees umspielt Schimmelpfennig dabei sprachlich so charmant, dass man sie gern überhört. Und auf der Bühne verwandeln sie sich – das ist ja das Herrliche an Klischees – sofort in Kopfkinobilder.

Diese Bild-Erstellung überlässt Regisseurin Maack den vier großartigen Darsteller*innen. Abwechselnd erzählen sie von ihren Sehnsüchten und Wünschen, den letzten Ereignissen in der Telenovela und der kaputten Waschmaschine der Nachbarin aus dem Stockwerk drüber. Sie fallen sich freundlich ins Wort, ergänzen abgebrochene Sätze, schildern Erlebtes und Gesehenes, träumen von Vergangenem und Verpasstem. Meist sitzen sie dabei auf dem Sofa, das Bühnenbildner Lars Peter weit vor den eigentlichen Bühnenraum gerückt hat. Hinten wiederum liegt jede Menge Plastik, das in goldenem Licht dann und wann glitzert – wie die Welt, die sich die Figuren herbeisehnen.

Und zunächst beschert ihnen der Inhalt jenes mysteriösen Pakets tatsächlich Reichtum, Erfolg und magische Kräfte – der erwähnte poetische Kugelschreiber, ein Löffel der tausend Geschmäcker oder ein Glas, das nie leer wird. Bis sie – es kommt, wie es kommen muss – feststellen, dass man sich auch von all diesen Dingen weder Glück noch Liebe kaufen kann. Liebevoll zeichnet Maack die Figuren, arbeitet Szenen fein und präzise aus, erzählt die märchenhafte Geschichte mit zurückhaltender, heiterer Sympathie. Und macht so aus Schimmelpfennigs doch recht vorhersehbarem Stück einen gelungenen, zauberhaft leichten Abend.

Freitag, 15. 6., 20 Uhr, weitere Termine: 22. und 23. 6., Theater Kiel

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