: Che würde sich im Grab umdrehen
Auch nicht mehr das, was sie mal waren?, Folge II: Die Kritisch-Solidarischen. Auf ihr eigentümliches Wohlwollen kann Rot-Grün schon lange nicht mehr zählen. Schröder und Fischer sind für sie Verräter
Die Serie: Auch nicht mehr das, was sie mal waren? Im Wahlkampf neigt die Infoelite wider besseres Wissen zu einer totalen Fixiertheit auf Parteien und ihre Spitzenpolitiker. Und klagt dabei über eine intellektuelle Leere, über fehlende Impulse aus den anderen Gruppen der Gesellschaft. Wie steht es wirklich um den geistigen Zustand der Republik?Folge I war: Die kritische Öffentlichkeit
VON ROBERT MISIK
In den Zeiten, als linke Orthodoxie und Nichtorthodoxie noch fließend ineinander über gingen, war, neben Sektierer und Dogmatiker, eine weitere Figur stilbildend: die des solidarischen Kritikers oder kritischen Solidarischen. Der solidarische Kritiker hielt Distanz – und doch nahezu jeder linken Sache die Treue.
Er nahm diese Position der solidarischen Kritik zu allem möglichen ein: gegenüber den Sandinisten in Nicaragua ohnehin, aber auch gegenüber der Sowjetunion und womöglich sogar gegenüber Pol Pot. Die Haltung der solidarischen Kritik war zugleich eine bequeme und eine unbequeme. Sie war bequem, weil der solidarische Kritiker den totalen Bruch mit falschen Genossen vermeiden konnte, und sich dennoch nie die Finger schmutzig machte. Er konnte im Extremfall zu Verbrechern halten, ohne sich an ihren Verbrechen mitschuldig zu fühlen. Er war ein Kritiker des Stalinismus und verteidigte doch noch den Breschnewkommunismus, wenn er denselben im Fadenkreuz des Imperialismus wähnte. Er blieb, mangels realisierter Utopie, auf Seiten der vielen kleineren Übel.
Unbequem war die Position natürlich zugleich deshalb, weil man die Übeltäter dann, wenn auch verdruckst, verteidigen musste, was oft ziemlich schwer fiel.
Der solidarische Kritiker war eine eigene Art Realpolitiker, auch wenn er im Detail oft durchaus den Anfechtungen der Wirklichkeit widerstand. Aber er war kein Sektierer. Er zog das, was er für den relativen welthistorischen Fortschritt hielt, den Kräften der Ancien Regime vor.
Was immer man an Kuba kritisieren mochte, es galt ihm als Fortschritt gegenüber der Herrschaft der lateinamerikanischen Compradorenbourgeoisien, was immer man an Gulag und Panzerkommunismus auszusetzen haben konnte, so war Moskau doch ein weltgeschichtlicher Fortschritt gegenüber Washington und, so schwer es ihm fallen mochte, auch in Hinblick auf die Rivalität von SPD und CDU nahm er den Sozialdemokraten gegenüber lange die Haltung der solidarischen Kritik ein.
Die Haltung der kritischen Solidarität ist ziemlich aus der Mode und – mit gutem Recht – ins Gerede gekommen. Obwohl der solidarische Kritiker nie ein Stalinist war, waren ihm doch osteuropäische Dissidenten oft suspekt, und als die staatssozialistischen Regimes kollabierten, konnte er sich nicht recht freuen. Schließlich wurde in diesen Ländern nun ja der Kapitalismus eingeführt, was aus seiner Sicht einen welthistorischen Rückschritt darstellte. Der solidarische Kritiker stand nun etwas verloren da, hatte zwar selbst kein Blut an den Händen, aber irgendwie auch keine völlig blütenweiße Weste. Nicht gerade die beste Ausgangsposition, seine Mentalität zu tradieren, sie jüngeren linken Milieus weiterzugeben.
Natürlich gibt es noch ein paar weitere Gründe, die die Anziehungskraft des solidarischen Kritikers untergruben. Sein bedächtiger Gestus hatte nicht den Sex des radikalen Denkers, der mit scharfer Militanz alles seiner Kritik unterzieht, was nicht exakt mit den Überzeugungen von ihm und seiner fünf besten Freunde übereinstimmt. Dem Radikalen gegenüber erschien der solidarische Kritiker meist als lauer Warmduscher. Da tickt die linke Subkultur wie die Talkshow im Privatfernsehen: Die extravaganteste Position „sells“, der Kompromissler wird zum Ladenhüter. Außerdem ist solidarische Kritik eine Homogenisierungsstrategie und in pluralen Gesellschaften gilt auch für die Linken: Differenz und Heteronomie sind schick. Solidarische Kritik beruht ja auf der Überzeugung, dass mich mit gewissen Kräften, bei allem, was uns unterscheidet, auch etwas verbindet. Heute gilt eher die Haltung: Kein Manöver soll planieren, was mich von anderen trennt.
In den vielen kritischen Kulturen und Biotopen herrscht ja ein Betriebsklima, das dem der neoliberalen Ich-AG-Kreise oder dem der unübersehbaren Jugendszenen unserer Tage ähnlich ist: Jeder will ganz bei sich sein, sein authentisches Ich nicht verbiegen, und sei es nur durch die vielen Kompromisse, die die Kooperation mit anderen erzwingt. In der politischen Konstellation der gegenwärtigen Bundesrepublik – und in diesem Wahlkampf speziell – kommt eine solche Haltung in mehrfacher Hinsicht zum tragen.
Zunächst und unübersehbar: Auf kritische Solidarität, auf dieses eigentümliche Wohlwollen des solidarischen Kritikers konnte die rot-grüne Regierung schon lange nicht mehr zählen. So mancher, der in Breschnew und Honecker einst einen relativen Fortschritt sah, betrachtet Schröder und Fischer schlicht als Verräter. Nichts kann er erkennen, was es wert wäre, die rot-grüne Regierung zu verteidigen.
Aber auch die neue Linkspartei mobilisiert nicht automatisch kritische Solidarität. Jedes der verschiedenen linken und alternativen Milieus und Submilieus hat seine spezifischen Gründe, ihr mit Reserviertheit zu begegnen. Für die einen ist die alte PDS zu sehr noch autoritäre Kaderpartei, für die anderen ist die WASG-Truppe eine Retroversammlung, die Dritten wollen mit der Parteiform als solcher nichts mehr zu tun haben und sehen es als Königsweg der Emanzipation, einfach ihr Ding zu machen.
Man kann dem durchaus etwas abgewinnen: Die rebellischen, die sozial oder menschenrechtlich engagierten Aktivistenmilieus sind so vielfältig wie das Leben selbst, und wer weiß, ob es etwas brächte, diese Vielstimmigkeit krampfhaft zu homogenisieren. Ich selbst habe mich, beispielsweise, kritisch über die Linkspartei geäußert. Andere haben die rot-grüne Regierung verteidigt. Wieder andere haben angemerkt, dass die Linkspartei immerhin eine Chance darstellt, eine moderne Linke zu entwickeln. Über den Sturm, der da – wahrscheinlich im Kopf eines jeden – tobt, braucht man nicht viele Worte verlieren: Man kann ihn in den Leserbriefspalten dieser Zeitung nachlesen.
Ich bin kritisch-solidarisch
Dennoch, wenn ich kurz persönlich werden darf: Ich ticke immer noch altmodisch kritisch-solidarisch. Ich bin in diesem Wahlkampf sogar extrem kritisch-solidarisch. Ich bin kritisch-solidarisch mit der SPD. Ich bin kritisch-solidarisch mit den Grünen. Und ich bin kritisch-solidarisch mit der Linkspartei. Vielleicht liegt das an meiner Harmoniesucht, die bei mir nur durch gelegentliche Streitlust konterkariert wird. Vielleicht auch an habituellem Nichtsektierertum. Jedenfalls glaube ich, gute Gründe für solche gerecht verteilte kritische Solidarität zu haben. Die SPD unter Schröder hat wenigstens den Versuch unternommen, sich immer wieder selbst gequält, Modernisierung und Gerechtigkeit zusammenzuspannen. Leider mehr als gelegentlich mit ungerechten Resultaten. Die Grünen sind insofern immer noch Protagonisten einer modernen Linken, als sie die Heterogenität widerspiegeln, die die Realität der kritischen Kulturen auszeichnet. Ihre Tragödie ist, dass sich diese Heterogenität von ihnen nicht mehr repräsentieren lassen will, auch weil ihnen ihr rebellischer Habitus verloren gegangen ist (was, wenn Generationenprojekte in die Jahre kommen, kein Wunder ist).
Der Hype um die Linkspartei wiederum ist ein Indiz dafür, dass man den großen Polarstern der Linken, die Gleichheit, nicht ungestraft aus den Augen verliert. Ich weiß, was ich an all den drei Formationen zu kritisieren habe, die sich – entsprechend dem schönen Willy-Brandt-Wort – „jenseits der Union“ verorten; ich bin aber auch durchaus großmütig, bin bereit, vieles zu verzeihen. „Verrat“ ist doch meist ein zu großes Wort für Sackgassen, in die Akteure, die unter anderen Zwängen agieren als die Heerscharen kritischer Kritiker, durch die Umstände geraten.
Der Gestus der solidarischen Kritik war gewiss lange Camouflage für falsche Kameraderie, eine eigene Spielart der Irrlichterei, eine Art spezifisches Prisma, durch das hindurch noch so mancher Dunkelmann irgendwie wie ein Genosse aussah. Doch indem diese Haltung so völlig aus der Mode gekommen ist, ist vielleicht auch etwas verloren gegangen: das Gespür, wie man den Blödheiten, den Verzagtheiten, der Machtgeilheit der eigenen Leute zu begegnen hat. Mit Kritik, wenn nötig mit beißend-scharfer, aber doch auch mit dem Bewusstsein, dass nicht jeder, der sich gelegentlich auf den Holzweg begibt, schon ein „Feind“ oder ein „Verräter“ ist.