In die Zeit horchen

Szenische Reise durch die Geschichte des Gebäudes: „Opdakh“ vom „Theater ohne festen Wohnsitz“ im Jüdischen Waisenhaus

Zeitfetzen, gespielt, in „Opdakh“Foto: Gregor Zielke

Von Katja Kollmann

Dieses Haus steht da wie eine Trutzburg. Das hohe Mansarddach thront über der Berliner Straße in Pankow und erinnert an einen Getreidespeicher. In seiner Monumentalität atmet das Gebäude den Geist des Wilhelminismus, dennoch hat es eine gewisse Eleganz. Seit 2002 steht im Giebelfeld wieder „II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde in Berlin – erbaut im Jahre 1912/13“.

Gemeindebaumeister Ale­xan­der Beer, der im KZ Theresienstadt umkam, hat dem Waisenhaus die Aura eines repräsentativen Hauses gegeben. Das Gebäude erzählt so vom erstarkten Selbstbewusstsein der Jüdischen Gemeinde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg.

Steigt man die leicht geschwungenen Treppen hinauf und geht an den runden Säulen vorbei, ist man in der Janusz-Korzcak-Bibliothek. Geht man dann ins Treppenhaus und läuft auf den mit Terrazzo ausgestatteten Stufen zum zweiten Stock, steht man im ehemaligen Betsaal. Josef Garbáty-Rosenthal, dessen Zigarettenfa­brik auf dem Nachbargrundstück war, hat ihn gestiftet.

Das „Theater ohne festen Wohnsitz“ bietet mit „Opdakh“ eine szenische Zeitreise durch die über hundertjährige Geschichte dieses Hauses. Sitzt man nun im ehemaligen Betsaal unter der wieder freigelegten Kassettendecke, ist es, als höre man in das Haus hinein. Es gibt keine chronologische Folge der Szenen. Zeitfetzen der unterschiedlichen Nutzungen scheinen auf, nur durch die Stimme eines „Übergedächtnisses“ zusammengehalten, um dann wieder zu verschwinden.

Die jungen SchauspielerInnen Andrew Clarke, Jakob Plutte, Raquel Villar und Wenonah Wildblood changieren ständig zwischen unterschiedlichen Rollen und Epochen. So gibt Andrew Clarke einem jüdischen Kind, das in den dreißiger Jahren die am Haus vorbeiexerzierenden HJ-Formationen hört, und einem Angestellten der kubanischen Botschaft im Jahr 1990 seine Stimme. Wenonah Wildblood leiht der aus Angst strengen Erzieherin im Jahr 1936 und einer Mitarbeiterin der polnischen Botschaft, die in den 50er Jahren ihre deutschen Wurzeln negiert, ihren Körper.

Bis zur erzwungenen Schließung des II. Jüdischen Waisenhauses im Jahr 1940 war dieses Gebäude für hundert jüdische Kinder ein sicherer Ort in einer Gesellschaft, die ihnen jegliches Recht auf ein menschenwürdiges Leben längst entzogen hatte. 1942 wurde das Gebäude von der SS beschlagnahmt, von 1943 bis 1945 diente es dem Reichssicherheitshauptamt als „Zentrale Sichtvermerkstelle“. Diese war ein wichtiger Teil des Amtes IV F 5 des RSHA, der Abteilung Karteiwesen der Gestapo. Hier wurde der gesamte Reiseverkehr vom und ins Deutsche Reich überwacht.

Die Dialoge machen entscheidende Momente anderer Epochen erlebbar

In diese Zeit, in der Gestapo-Angestellte über den Terrazzoboden laufen und die Flügeltüren öffnen, wird nicht hineingehorcht. Sie wird erwähnt. Nach einem Bombentreffer Anfang 1945 reparierten KZ-Häftlinge aus Berlin-Lichterfelde, überwiegend Polen, Franzosen und Russen, das Dach des beschädigten Gebäudes. An diese Menschen wird nicht erinnert.

Sitzt man im ehemaligen Betsaal und hört den Dialogen zu, die entscheidende Momente anderer Epochen wieder erlebbar machen, sind sie, am historischen Ort gesprochen, von einer zwingenden Unmittelbarkeit. Das führt zu einer sinnlichen Überlagerung des Raums mit den Zeitschichten, die er in sich trägt. Zugleich lassen die klug ausgewählten Zeitfetzen neu­ral­gische Punkte der deutschen Geschichte lebendig werden und verorten so das, was hier stattfand, im großen Ganzen.

So spiegelt sich im Gespräch der polnischen Botschaftsangehörigen in den Fünfzigern die Ambivalenz der Beziehungen zwischen den Menschen beider Nationen. Von 1971 bis 1991 residierte dann die kubanische Botschaft im ehemaligen jüdischen Waisenhaus. Hörbar gemacht wird ein Dialog zwischen einer kubanischen Vertragsarbeiterin und einem Angestellten der Botschaft nach dem Mauerfall. Der Botschaftsmitarbeiter entzieht ihr den Pass und zwingt sie so zur Rückkehr nach Kuba. Ist man von dieser Zeitreise wieder zurückgekehrt, schaut man sich gern historische Fotos vom Schülertheater der V. jüdischen Volksschule an, die hier ab 1936 untergebracht war, und lauscht.

Wieder am 8. Juni um 11 und 18 Uhr, am 9. Juni um 21 Uhr