piwik no script img

berliner szenenZwei Treppen dauern eine Ewigkeit

Fünf Tage war er in der Intensivstation gewesen. Der Zucker war völlig hinüber gewesen. Dann hatten sie wohl wieder seine Füße vernachlässigt, und alles war ganz schlimm; die Fortschritte der letzten Monate für die Katz, die Amputation sozusagen in Sichtweite. Vormittag, die Sonne schien, wir fuhren mit dem Taxi zur Ärztin. Ich genoss die Fahrt und dass ich in den Augen des Taxifahrers vermutlich der vernünftige Betreuer des Freundes war.

Wir fuhren teils auf Straßen, die ich früher mit dem Fahrrad zur Uni gefahren war. (Oft hatten wir überlegt, ob sich der Hin- oder der Rückweg schneller anfühlt.) Dann ging es durch Tunnel und über Autobahnkreuze, und schon waren wir da. Ich half ihm, die Treppen hochzuklettern. Die Praxis war halb voll. Die Zeitschriften vom Lesezirkel „daheim“ waren frisch. Ich las in „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace. Er hatte seinen Kopf auf die Tischplatte gelegt. Komischerweise gefiel mir das Buch, obwohl ich es zuvor doof gefunden hatte.

Als er im Behandlungszimmer war, ging ich draußen rauchen. Während die MTA mit einer Digicam Fotos seiner armen Füße machte, stand ich rauchend draußen, Ecke Fehlerstraße, und guckte mir die Leute an, die vor dem Café auf der anderen Straßenseite saßen. Ich nahm mir fest vor, später ein Foto von dem Straßenschild zu machen, vergaß es aber später. Zu zweit stützten wir den Freund auf den Treppen. Aus Sicherheitsgründen ging er rückwärts; ich ging rückwärts vor ihm, um ihn auffangen zu können, und neben ihm half die resolut wirkende MTA. Die zwei Treppen dauerten eine Ewigkeit.

Draußen zündete ich mir eine Zigarette an, damit das Taxi schneller kommt. Der Taxifahrer war nett. M. erzählte noch einmal, wie er zu seiner Ärztin gekommen war, die er sehr schätzte. Später, schon in der Friesenstraße, ärgerte sich der Taxifahrer über einen Autofahrer, der sich beim Einsteigen so viel Zeit gelassen hatte, anstatt zu warten, bis wir vorbei waren. Detlef Kuhlbrodt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen