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Gettorap und Geigensolo

In Musikschulen treffen sich vor allem Kinder aus gutem Hause. Musikunterricht ist laut Expert*innen aber für jedes Kind gut – egal, wie viel die Eltern verdienen. In Hamburg gibt es einige Ansätze für neue Konzepte

Von Cara Westerkamp

Nahe der U-Bahn-Station Mümmelmannsberg steht ein bunt besprühter Linienbus, Nummer 2221. Links davon eine Litfaßsäule, von der alte Plakate in Fetzen herunterhängen, rechts ein polnischer Supermarkt. Plastiklilien in den Fenstern der Plattenbauten rings herum. Und ein Laubbläser pustet Dreck und Zigarettenstummel in alle Himmelsrichtungen über den Platz. Wie jede Woche.

Im bunten Bus fährt Jochen Reich mit den Fingern über die Oberfläche eines Verstärkers – Staub. „Jetzt weiß ich, warum immer Dreck auf den Instrumenten ist“, sagt er: Draußen tönt immer noch der Laubbläser, dazu kläfft jetzt noch ein kleiner Hund, angeleint in der prallen Sonne. Vielleicht ist es kein praktischer Ort, um zu Musik zu machen, und ganz sicher ist es kein gewöhnlicher.

„Jamliner“: Auch das ist auf den Bus gesprüht, in bunten Graffitibuchstaben. Denn Fahrgäste transportiert diese „Buslinie“ schon seit dem Jahr 2000 nicht mehr: Reich und sein Team haben inzwischen sogar schon mehrere vormalige Nahverkehrsbusse umgebaut zu einem mobilen Proberaum und Tonstudio: Die Wände sind schallisoliert, E-Gitarren und ein Bass hängen daran, daneben ein Keyboard, auf einem Podest steht ein Schlagzeug. Der Platz ist so knapp, dass die Mikrofone von der Decke baumeln müssen, anstatt auf Ständern zu stehen. Wie in einem echten Tonstudio aber ist der hintere Teil des Busses durch Türen mit Glasfenstern abgetrennt.

Im Jamliner gründen Schüler*innen mit Hilfe von erfahrenen Musiker*innen eine Band auf Zeit: Gut ein halbes Jahr lang proben sie zusammen, einmal die Woche. Niemand braucht Vorkenntnisse, jede*r darf sich ein Instrument aussuchen. Die Schüler*innen schreiben einen eigenen Song, nehmen ihn auf, am Ende entwerfen sie das Cover für ihre eigene CD. Es geht hier nicht um Perfektion, sondern darum, gemeinsam kreativ zu sein.

An jedem Schultag fahren Reich und die anderen an „soziale Brennpunkte“, um mit Kindern zu musizieren, die sonst wohl keine Möglichkeit hätten, ein Instrument zu lernen. Die Schulen vor Ort stellen die teilnehmenden Schüler*innen für eine Stunde vom Unterricht frei, bezahlen müssen weder Eltern noch Kinder etwas, das Projekt der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg ist gefördert durch die öffentliche Hand und Sponsor*innen.

„Die Kids kommen eine Stunde die Woche her“, sagt Reich, „den Rest zocken sie Playstation.“ In Hamburg würden zwar immer mehr Instrumente gespielt als anderswo, aber nicht von Kindern aus Familien mit wenig Geld. Dass diese Schere sich weiter öffnet, belegt auch eine Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2017: Je niedriger Bildungsstatus und Einkommen der Eltern, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass ein Kind musiziert. Fehlt es Musikschulen vielleicht an neuen Konzepten, um alle Kinder zu erreichen? Im Jamliner fällt das klassische Üben zum Beispiel weg. So ein Ansatz „würde mit den Kindern hier sowieso nicht funktionieren“, sagt Reich. „Aber in ’ner Band zu spielen, das ist Teamplay. Man lernt soziale Fähigkeiten, man kann die beinahe sinnlich erfahren. Das bedeutet was für den Groove. Und man schafft was Eigenes – das hat einen großen Mehrwert.“

Um sich auszudrücken, wollen viele der mitmachenden Schüler*innen rappen. „Die Kinder hier haben heftige Gefühle, und wenn man Grund hat, darf man wütend sein“, sagt Reich. Und wenn etwas herauskommt wie bei Kolegah und Farid Bang? „Raptexte dürfen halt nicht grundlos beleidigen“, sagt der Projektleiter. „Aber wir sind hier keine Moralapostel.“ Und so kommt es vor, dass Sechstklässler darüber reimen, wie sie – mit ihren „Kollegen“, klar – „im Getto hängen“ und „die Tüte mit Dope rumreichen“.

Ob auch das gemeint war, als sich der Verband deutscher Musikschulen für seine Tagung Anfang Mai in Hamburg das Motto „Musikschulen in Veränderung“ wählte? Die Schulen seien mehr denn je „zugangsoffen“, so Ulrich Rademacher, der Bundesvorsitzende des Verbandes, gegenüber der Presse – das Problem sei „schlicht der Geldbeutel“. Musik könne „immer wieder verknüpfen zwischen Gefühl und Verstand und Körper“, so Rademacher . „Das ist dafür da, dass nicht andere auf der Klaviatur unserer Emotionen spielen und ihren Nutzen daraus ziehen, ohne dass wir es merken.“ Für die Entwicklung von Kindern, egal aus welcher Schicht, sei Musikunterricht daher enorm wichtig.

Vier von fünf Hamburger Grundschüler*innen sind inzwischen bis zum späten Nachmittag in der Schule, sie verbringen dort also Zeit, in der sie früher vielleicht zum Klavierunterricht gegangen wären. Die Staatliche Jugendmusikschule antwortet darauf mit der „aufsuchenden Musikschule“: Die Musiklehrer*innen kommen dabei am Nachmittag zu den Schüler*innen; beteiligt sind inzwischen 156 allgemeinbildende Hamburger Schulen. Das Konzept bietet Vorteile gerade für Kinder, die sonst kaum Aussicht auf solchen Unterricht hätten, sei es wegen der Kosten, sei es aber auch wegen der Anfahrt. Man arbeite verstärkt mit Schulen in Gebieten zusammen, in denen es viele „sozial schwächere Haushalte“ gebe, sagt Guido Müller, der Direktor der Jugendmusikschule. Die Stadt unterstützt das Projekt, für die Höhe der Gebühren gibt das Einkommen der Eltern den Ausschlag: Liegt es bei maximal dem 1,8-fachen Sozialhilferegelsatz – also 750 Euro pro Erwachsener – ist der Musikunterricht ganz kostenfrei. „Hamburg hat das Ziel, wirklich die Kinder zu erreichen und auf sie zuzugehen“, sagt Müller.

Zusammen mit dem örtlichen Konservatorium arbeitet die Hamburger Schulbehörde seit inzwischen neun Jahren noch an einem Projekt: „Jeki“ – das steht für „Jedem Kind ein Instrument“. An mittlerweile 62 Grundschulen finanziert die Stadt den Musikunterricht, die Instrumente leihen sich die Kinder an den Musikschulen.

Neben der Frage des Zugangs für alle lahmt das klassische Musikschulkonzept auch auf dem anderen Bein: Es fehlen die Lehrer*innen. „Wir sind in Sorge“, sagt Verbandschef Rademacher. „Und dabei dürfen wir trotzdem unsere Verantwortung für Qualität nicht vernachlässigen.“ Denn so ein*e Musiklehrer*in braucht offenbar auch übers Fachliche hinausgehende Qualitäten, müsse etwa wissen, wie sich eine Gruppe zum Kanonsingen animieren lässt – oder auch mal „begeistert von einer Oper erzählen“. Zwar gebe es Ausbildungs- und Studienplätze für Musikpädagog*innenen, bloß bewerbe sich kaum jemand. Es scheint, als stimmten die Anreize nicht.

In Mümmelmannsberg ist heute Fußballturnier. Arda und Emirhan aus der 6. Klasse kommen trotzdem zum Jamliner, wenn auch etwas verspätet. Der Rest ihrer Band fehlt heute: Ein Mädchen sei krank, die anderen beiden hätten sie in der Schule nicht gefunden. Macht nichts, dann wird eben improvisiert: Reich drückt auf einen Knopf und die Bustür schließt sich. Von draußen hört man nun nichts mehr. Arda und Emirhan schnallen sich die E-Gitarren um, Arda die türkisfarbene, Emirhan die schwarze. Vertretungsweise setzt sich Reich ans Schlagzeug, Projekthelfer Phillip übernimmt den Bass. Erst soll Arda seinen Teil allein vorspielen. Er legt seinen Finger auf den Gitarrenhals und zupft eine Seite. Irgendwas scheint da nicht zu stimmen. „Nee, hä?“, wundert sich Arda. „Soll ich mitspielen“, fragt Emirhan, „dann kommst du vielleicht drauf, wie es ging?“ Zusammen treffen sie die Töne. Es sind erst mal nur zwei – aber die sitzen.

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