piwik no script img

„Wir brauchen starke Künstlerpersönlichkeiten“

Bei ihrer Gründung in den 1960er-Jahren waren Rudolf Steiners anthroposophische Ideen die Wurzel, heute sind sie nur noch ein Angebot unter sehr vielen: Ausdrücklich multiperspektivisch bildet die Ottersberger Hochschule für Kunst im Sozialen aus und will Menschen zu einer mutigen, kreativen Lebensgestaltung befähigen. Selbstbeobachtung und Disziplin sind dabei selbstverständlich

Kunst als Hilfe zur Lebensgestaltung: Projekt von Ottersberger Studierenden Foto: Kunsthochschule Ottersberg

Interview Petra Schellen

taz: Herr Rummel-Suhrcke, wie ging das los mit der „Hochschule für Kunst im Sozialen“?

Ralf Rummel-Suhrcke: Wir sind über 50 Jahre alt. Im Jahr 1967 hat das Ehepaar Pütz eine freie Kunstakademie gegründet – die seit 1984 als Fachhochschule staatlich anerkannt ist. Das Künstlerpaar aus dem Ruhrgebiet hat in Industriebetrieben mit Auszubildenden gearbeitet und dabei bemerkt, wie sehr man durch Kunst Menschen in ihrer ganzen Haltung zu Beruf und Leben entwickeln kann. Diese gute Erfahrung mit künstlerischer Arbeit wollten sie dann in einem Akademieprojekt fortsetzen.

Ausgerechnet in dem Örtchen Ottersberg.

Ja. Vermutlich deshalb, weil das Anthroposophen-Paar Pütz an der Ottersberger Waldorfschule unterrichten konnte, die jetzt seit über 70 Jahren existiert. Die beiden haben zunächst sieben bis zehn Studierende in ihrem Wohnhaus unterrichtet, später ein benachbartes Grundstück in Ottersberg erworben. Bis 1980 haben sie dann eine kleine Akademie mit Ateliers, Studios, Verwaltung und Mensa aufgebaut. Es war ein guter Zeitpunkt, solch ein sozialkünstlerisches Programm zu etablieren und die Kunsttherapie zu akademisieren. Ottersberg war lange Zeit die einzige Hochschule mit diesem Angebot. Seit 2005 haben wir auch ein Institut für Kunsttherapie und Forschung. So hat sich dieses Fach, vom Pionier Ottersberg ausgehend, nach und nach in Deutschland und in Europa etabliert.

Inzwischen gibt es Konkurrenz?

Mittlerweile existieren bei den staatlichen Hochschulen auch Weiterbildungs- und Aufbaustudiengänge für Kunsttherapie, allerdings nicht mit unserem spezifischen künstlerischen Profil. Außerdem bieten wir auch Freie bildende Kunst und Theaterpädagogik als Bachelor-Studiengänge an, die am interdisziplinären Charakter des Studiums in Ottersberg beteiligt sind. Immer mit Blick darauf, dass die hier künstlerisch ausgebildeten jungen Leute später in sozialen Berufen arbeiten.

Ist das Bedingung?

Nein, aber es ist die Programmatik und Philosophie der Hochschule. Der Studiengang Kunsttherapie beinhaltet eine lange freikünstlerische Strecke, während derer die Studenten überwiegend im Atelier arbeiten, um sich zu Künstlerpersönlichkeiten auszubilden. Denn wir sind der Überzeugung, dass es auch in therapeutischen, pädagogischen und anderen sozialen Feldern wichtig ist, eine sehr starke eigene künstlerische Position zu haben.

Aber das Ziel ist nicht, auf eine Kunstkarriere vorzubereiten?

Der kleine Studiengang Freie bildende Kunst zielt sowieso darauf ab. Und in unseren regelmäßigen Absolventenbefragungen erfahren wir, dass viele später beides tun: Sie sind therapeutisch und künstlerisch tätig. Oft arbeiten sie fest angestellt in einer Klinik und gleichzeitig freiberuflich im Atelier und in Ausstellungen.

Zum Wintersemester 2018/19 haben Sie erstmals den Studiengang „Soziale Arbeit“ angeboten.

Ja, er führt zum Sozialarbeits-Bachelor und ist inzwischen angelaufen. Wir glauben, dass wir dann ein weiteres Alleinstellungsmerkmal haben: eine Ausbildung zum staatlich anerkannten Sozialarbeiter – anders als an staatlichen Hochschulen übrigens mit einer Zulassung ohne Numerus clausus – mit einer ästhetisch-künstlerischen Sensibilisierung und Qualifizierung für die Beobachtung und Gestaltung von Sozialräumen.

Wie viele Studierende hat Ihre Hochschule?

Derzeit rund 350. Alles Menschen, die Kreativität mitbringen – was auch Voraussetzung ist, denn bei uns muss man seine Begabung in bestimmten Zulassungsverfahren nachweisen können. Viele haben auch bereits Sozialpraktika absolviert oder sich beispielsweise in NGOs engagiert. Sie bringen viel gesellschaftliches Engagement und Idealismus mit an unsere ohnehin idealistisch eingestellte Hochschule.

Gibt es eine Pflichtvorlesung namens „Ethik“?

In den fachlichen Curricula und im Studium fundamentale, das alle Studierenden fächerübergreifend belegen, existieren solche Angebote. Da geht es um ethische Fragen in der Medizin, Philosophie, Psychiatrie und Therapie. Auch in der Kultursoziologie und Pädagogik schwingt dies mit.

Und die Anthroposophie?

Anthroposophie ist unsere Wurzel, die wir bewusst nicht leugnen. Wir haben in der Kunsttherapie als ein Angebot unter mehreren die anthroposophisch-fachliche Vertiefung. Und wir kooperieren in der kunsttherapeutischen Weiterbildung mit dem anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke, das einer der Gesellschafter unserer gemeinnützigen Hochschulträgergesellschaft ist.

Wie stark prägen anthroposophische Ideen heute noch das Studium?

Grundsätzlich werden an­throposophische Inhalte in der Kunsttherapie, aber auch in der Medizin freiwillig studiert. Auch die Waldorfpädagogik ist kein Pflichtangebot. Anthroposophie ist bei uns keine Weltanschauung, kein Dogma.

Sondern?

In erster Linie eine mögliche – allerdings bewährte – therapeutische Praxis. Als moderne Hochschule bieten wir ein vieldimensionales und multi­pers­pektivisches Spektrum an Methoden und Erkenntniszugängen. Eine zeitgemäße Anthroposophie wäre davon ein vornehmer Teil. Seit einigen Jahren wird die Anthroposophie im alten Verständnis nicht mehr im Leitbild der Hochschule geführt. Wir suchen aber den aktuellen Diskurs mit Partnern aus unserem Netzwerk. Und immerhin haben wir auch einen hohen Anteil an Waldorfschulabgängern in unserer Studierendenschaft: 15 bis 20 Prozent pro Jahrgang.

Ihre Hochschule, eine Privat-Uni, kann sich nicht jeder leisten. Ist das nicht elitär?

Als elitär verstehen wir uns überhaupt nicht, da unsere gesellschaftliche Orientierung auf Teilhabe und Empowerment durch die Künste und durch soziales Engagement abzielt. Aber es stimmt: Wir müssen Studiengebühren erheben, je nach Studiengang 350 bis 450 Euro im Monat. Das ist nicht wenig, aber leider nicht anders möglich, weil wir uns wesentlich daraus finanzieren. Wir bekommen auch einen geringen Landeszuschuss sowie Zuwendungen und Fördergelder von Dritten. Es finden sich immer Wege, das Studium zu finanzieren. Einerseits bietet die Hochschule selbst viele studentische Jobs an, andererseits unterstützen unsere ProfessorInnen die Studierenden aktiv darin, Stipendien von Stiftungen zu bekommen.

Finden Ihre Absolventen einen Arbeitsplatz?

Die Ergebnisse unserer Absolventen-Befragungen sind durchweg positiv. Zwar gehen nicht alle in feste Arbeitsverhältnisse, aber fast niemand muss fachfremd arbeiten. Befristete und projektorientierte Arbeitsverhältnisse nehmen wie in allen Berufsfeldern zu. Unsere Studierenden bekommen aber schon in ihren Praktika Einblicke und Fantasien für die Ausgestaltung ihrer beruflichen Wege. Mut und Kreativität sind erfolgreiche Verbündete bei der Berufswahl.

Foto: privat

Ralf Rummel-Suhrcke, Jahrgang 1963, war zunächst Redakteur bei der HNA, hat dann in Göttingen und Bremen Kunstwissenschaften und Soziologie studiert. 2009 hat er in Ottersberg als Professor für Kultursoziologie angefangen und ist seit 2013 in der dortigen Hochschulleitung tätig.

Wie verhält es sich mit den Geschlechtern?

In der Kunsttherapie liegt der Anteil der Studentinnen in der Tat bei 85 bis 90 Prozent, in der Theaterpädagogik bei rund 70 Prozent. Wie es bei den neuen Studienangeboten sein wird, werden wir erst noch sehen. Unter den ProfessorInnen liegt der Frauenanteil bei jeweils 50 Prozent, da gehen wir in Genderfragen voran.

Auch in der Chefetage?

Ja. Ich bin, gemeinsam mit meiner Kollegin, Mitglied der akademischen Hochschulleitung, zuständig für Vernetzung und Entwicklung. Parallel bin ich in der Geschäftsführung des Hochschulträgers. Daneben habe ich eine Professur für Kultursoziologie und unterrichte auch Kulturmanagement. Zen­tral ist dabei die Reflexion darüber, in welcher Gesellschaft kreativ gearbeitet, was gebraucht und was gefördert wird. Und wie sich die Künste im Sozialen entwickeln.

Haben Sie den Eindruck, dass wir im Moment in kreativen Zeiten leben?

Kreativität ist ein viel benutzter Begriff, und man stellt fest, dass das, was aus einer humanen Sicht sinnvoll wäre – die Kreativität des Einzelnen in seiner sozialen Lebensgestaltung zu achten und zu entwickeln – in einen Zwang umkippt: Man muss heute kreativ und flexibel sein, um nicht aus dem System zu fallen. Das versuche ich ­gerade in einem Seminar kritisch zu beleuchten: Wo geht es um Eigenständigkeit und wo um Ausbeutung solcher Potenziale? Zu dem Thema bieten wir seit Kurzem übrigens einen neuen berufsbegleitenden Master-Studiengang an: Artful Leadership. Er richtet sich an Menschen, die in Nonprofit- und Profit-Unternehmen Führungspositionen einnehmen oder anstreben.

Was wollen Sie diesen Menschen vermitteln?

Auch hier arbeiten wir mit den Stichworten „Kreativität“ und „künstlerische Kompetenzen“, indem wir sagen: Das Führungsprinzip sollte sensibel entwickelt werden und eher partizipatorisch angelegt sein als hierarchisch. Das beginnt mit Selbstbeobachtung und der Beobachtung von MitarbeiterInnen und Strukturen in den Betrieben. Es geht nicht darum, standardisierte Führungsprinzipien aufzusetzen, sondern aus den Potenzialen der MitarbeiterInnen eine Führungsphilosophie zu entwickeln.

Wie wichtig ist Disziplin?

Die Disziplinargesellschaft ist ein Wort aus dem 20. Jahrhundert. Wir machen heute die Erfahrung, dass die Zwänge oft nicht mehr sichtbar sind und in uns selbst wirken. Das muss man sich bewusst machen können, aber Disziplin – auch Selbstdisziplin – ist nicht per se ein negativ konnotierter Begriff. Vielmehr geht es aus Sicht der Hochschule darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich Menschen weitgehend selbstbestimmt entfalten können. Dabei ist aber immer klar, dass man keine Freiheit ohne Notwendigkeit erlangen kann.

www.hks-ottersberg.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen