: Großer Sprung
Arvo Pärt ist als einer der meistgespielten Komponisten der Gegenwart vermutlich auch einer der am leidenschaftlichsten angefeindeten. Der vor allem durch seinen „Tintinnabuli“-Stil bekannte Este wird für genau diese Glocken-Harmonien oft kritisiert. Dabei hat der in der Sowjetunion sozialisierte Musiker einen langen Weg zurückgelegt, bis er zur eigenen Handschrift fand.
Dieser Weg führte, für fast drei Jahrzehnte, über die Station Berlin, wo Pärt 1981 als Daad-Stipendiat hinkam und sich zum Bleiben entschied. Bis er 2010 wieder dauerhaft nach Estland zurückkehrte. Auf der nuancierten neuen Einspielung seiner vier Symphonien mit der NFM Wrocław Philharmonic unter Pärts langjährigem Dirigenten-Begleiter Tõnu Kaljuste kann man die Stationen bis zu dieser „Heimkehr“ gut nachvollziehen. Mit einem Zeitsprung dazwischen.
Pärts streng mehrstimmige erste Symphonie entstand 1963, als er noch in Tallinn bei Heino Eller Komposition studierte. Da Pärt die Musik nach der Zwölftonmethode des Kollegen Arnold Schönberg schrieb, konnte er mit seiner schroffen Atonalität und den scharfen Bläserklängen die sowjetischen Kulturfunktionäre nicht für seine Sache einnehmen.
Sparsamer im Klang dann seine zweite Symphonie von 1966, die zu seinen „Collage“-Werken zählt: Neben atonalen Passagen hat Pärt tonale Momente ins Gefüge integriert. Noch tonaler geriet die dritte Symphonie, 1971 entstanden. Zu der hatte sich Pärt von gregorianischen Chorälen des Mittelalters und geistlicher Musik der Renaissance inspirieren lassen. Womit er erneut aneckte. In dieser Zeit trat Pärt zudem der russisch-orthodoxen Kirche bei und komponierte ansonsten bis 1976 keine weiteren veröffentlichten Werke.
Am Ende der Pause hatte er seinen Stil gefunden. Und von Berlin aus, wenige Jahre später, wurde er, spätestens nach seinem ECM-Album „Tabula rasa“ von 1984, unaufhaltsam zum Weltstar. Die Symphonie No. 4, von 2008 wohlgemerkt, die als einzige seiner Symphonien im Tintinnabuli-Stil geschrieben ist, markiert zugleich das Ende von Pärts Berliner Phase. Mit elegischer Ruhe und diesem sakralen Gestus, der durch und durch Pärts ist. Und auch einem Orchester gut zu Gesicht steht. Tim Caspar Boehme
Arvo Pärt: „The Symphonies“ NFM Wrocław Philharmonic, Tõnu Kaljuste (ECM Records/Universal)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen