: Das Erbe der „singenden Revolution“
Die Folkszene Estlands hat eine rasante Entwicklung genommen. Beim Rudolstadt-Festival kann man sich im Juli davon überzeugen
Von Christian Rath
Wie wichtig die Musik in Estland ist, versteht, wer auf die Geschichte des Landes schaut: Die sogenannte singende Revolution hatte gehörigen Anteil daran, dass die baltischen Staaten während der Perestroika ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erstritten. In Estland begann sie im Juni 1988, als sich nachts Tausende an der Sängerbühne der Hauptstadt Tallinn trafen, um Lieder für die Unabhängigkeit zu singen. Im September waren es dann sogar 300.000 Esten, die gemeinsam die verbotene alte Nationalhymne anstimmten. 1990 erklärte sich Estland dann für unabhängig.
Estland ist ein kleines Land mit nur 1,3 Millionen Einwohnern. Estland liegt nicht nur geografisch nahe an Finnland, auch die estnische Sprache ist mit dem Finnischen verwandt und das finnische Nationalinstrument, die himmlisch-hell klingende Kastenzither Kantele, hat in Estland mit der Kannel ein Pendant.
Stolz ist man in Estland auf die Dokumentation von über 133.000 Volksliedern, eine der größten Sammlungen in der Welt. Dennoch gab es lange Zeit keine international relevante Folkmusik. Im Baltikum war in den neunziger Jahren zunächst Lettland maßgebend. Doch in den vergangenen Jahren hat Estland massiv aufgeholt, wie etwa die aktuelle Kompilation „Folk from Estonia“ des deutschen Labels Nordic Notes zeigt.
Auch beim Rudolstadt-Festival, dem wichtigsten deutschen Folk- und Weltmusik-Event, wird Estland in diesem Juli im Fokus stehen (neben vielen anderen Hightlights von Graham Nash über Faber bis Cymin Samawatie). Immerhin acht Gruppen aus Estland wurden nach Thüringen eingeladen. Estnischer Headliner sollte in Rudolstadt eigentlich Trad.Attack! sein, das derzeitige Aushängeschild der estnischen Folkszene.
Trad.Attack! ist ein Trio, das es bis in die estnischen Charts geschafft hat. Aber dann wurde Sängerin Sandra Vabarna schwanger. Das Kind soll parallel zum Festivalbeginn auf die Welt kommen.
Neuer Top-Act des Estland-Schwerpunkts ist nun das Quartett Curly Strings. Sängerin Eeva Talsi und ihre drei Mitmusiker spielen alle Saiteninstrumente: Geige, Gitarre, Bass und Mandoline. Obwohl sie nur auf Estnisch singen, klingt die Musik oft wie Bluegrass. In Rudolstadt wartet eine große Herausforderung auf Curly Strings – sie werden gemeinsam mit den Thüringer Symphonikern auftreten. Derzeit arrangieren vier estnische Spezialisten das Curly-Strings-Repertoire für Folkband und Symphonieorchester.
Der spannendste estnische Act ist aber Maarja Nuut. Sie spielt Geige, singt dazu und baut mithilfe eines Loop-Geräts mehrlagige Strukturen auf. Ihre repetitiv angelegte Musik ist tief in der estnischen Folkmusik verankert, die sie an der Musikakademie von Viljandi studiert hat. Gleichzeitig sind ihre ebenso technologiefreudigen wie streng durchgestylten Auftritte aber das Modernste, was estnische Folkmusik aktuell zu bieten hat. In Rudolstadt tritt sie mit dem Elektro-Komponisten Hendrik Kuljujärv auf, der ihren Sound live bearbeiten wird.
Eher bodenständig wirkt dagegen die Sängerin Mari Kalkun aus Südestland. Sie spielt auch Akkordeon und Kannel. Ihr letztes Album widmete Kalkun den estnischen Wäldern. Für viele Esten sei „der Wald wie eine Kirche, ein Ort, um Frieden zu finden“.
Skurril wie aus einem finnischen Film ist das Duo Puuluup, das seine Musik „Neozombiepostfolk“ nennt. Die beiden Nerds spielen Talharpa (Schwanzhaarharfe), ein eher seltenes Folk-Instrument, und singen dazu. Auf Videos sieht man sie auch bei ulkigen Tänzen, wobei sie natürlich keine Miene verziehen. Ungewöhnliche estnische Gäste sind auch das Handglockenensemble Arsis und die Turban tragende Roots-Rock-Band Bombillaz.
Kaum eine europäische Folkszene in Europa hat sich in den letzten Jahren so schnell entwickelt wie die estnische. Aber es gab noch einen zweiten Grund, warum Estland zum Schwerpunktland beim Rudolstadt Festival wurde. Estland feiert in diesem Jahr 100. Geburtstag. 1918 wurde erstmals die Unabhängigkeit proklamiert. Das Festival bekam deshalb einen schönen Zuschuss vom estnischen Kulturministerium.
Rudolstadt-Festival: 5. bis 8. 7. rudolstadt-festival.de | Various Artists: „Nordic Notes Vol. 5: Folk From Estonia“ (Nordic Notes/Broken Silence)
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