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Die Handschrift der Erde

Das Museum Folkwang widmet dem italienischen Fotografen Luigi Ghirri die lange ersehnte Einzelausstellung und gibt ihr nach Houellebecq den Titel „Karte und Gebiet“

Von Max Florian Kühlem

Zu allererst fallen die große Bescheidenheit und das zutiefst Unprätentiöse auf, wenn man sich mit Luigi Ghirris Werk beschäftigt. Aus einfachen Verhältnissen stammend, führte sein Interesse für Topografie und die großen Wohnungsbau- und In­fra­struktur-Projekte der 1950er und 1960er Jahre nicht zu einem Architekturstudium, sondern zu einer Ausbildung zum Landvermesser. Als Ghirri 1973 beschloss, sich ganz der Fotografie zu widmen, fotografierte er weiter konsequent mit seiner kleinen Canon-Kamera in Farbe und gab die Filme ganz normal zum Entwickeln ab – „weil die reale Welt farbig ist und der Farbfilm erfunden wurde“, so seine einfache Erklärung. Den Gedanken an einen eigenen, charakteristischen Stil lehnte er ab, sah sich als Vermittler einer Geschichte, sich kreuzender Sichtweisen.

Wenn das Museum Folkwang in Essen ihm jetzt eine Einzelausstellung widmet, die erste große zu Luigi Ghirris fotografischem Gesamtwerk der 1970er Jahre, dann weiht das Haus seine Besucher damit in ein offenes Geheimnis ein. „Unter Fotografen wie Robert Frank, Andreas Gursky oder William Eggle­ston wurde er immer sehr verehrt“, sagt James Lingwood, der externe Kurator der Schau. „Auch Thomas Demand war ein großer Bewunderer, hat ihn 2011 ins Zentrum einer Ausstellung gestellt. Beim normalen Publikum war Ghirri allerdings nicht sehr bekannt.“

Das mag zum einen an seinem frühen Tod im Jahr 1992 liegen, zum anderen aber sicher an der eingangs erwähnten Bescheidenheit. Luigi Ghirri fotografierte zu einer Zeit, als sich die Fotografie zum Massenmedium entwickelte – und er fotografierte auf den ersten Blick nicht anders als Menschen beim Sonntagsausflug fürs Familienalbum. Er suchte sogar die passenden Orte dafür auf: Touristenstrände, Vergnügungsparks, Urlaubsorte in der Schweiz oder Österreich. Gibt man sich dem Strom der kleinformatigen Bilder in den verschiedenen Räumen des Museums Folkwang hin, und der Welt, von der sie erzählen, erkennt man jedoch schnell gewaltige Unterschiede.

Ghirri rückt fast nie Menschen in den Mittelpunkt seiner Bilder. Lichtet er sie ab, dann meist von hinten und aus der Distanz heraus. Sein Interesse gilt nicht einem Typen oder Charakter, sondern der Einrichtung von Räumen. Selbst seine Bilder von Touristenstränden und -attraktionen sind meist fast menschenleer, als hätte er auf den Moment gewartet, die gestaltete Welt frei von jeder Person zu zeigen. Doch in einem gleichsam dialektischen Schritt lenkt er den Fokus des Betrachters so auf die – wie es Georges Perec in seinen „Träumen von Räumen“ ausdrückt – „Wahrnehmung einer Handschrift der Erde, einer Geographie, von der wir vergessen haben, dass wir ihre Schöpfer sind“.

Die Essener Ausstellung heißt „Karte und Gebiet“, ein Titel, der durch den vorletzten Roman Michel Houellebecqs Berühmtheit erlangte. Tatsächlich ist Luigi Ghirri in der Fotoserie „Atlante“ ähnlich vorgegangen wie Houellebecqs Held Jed Martin: Er fotografierte Ausschnitte aus Karten und Atlanten mit einem Makroobjektiv, machte Detailaufnahmen von Bergketten, Wüsten, Inselgruppen oder einfach nur einem Breitengrad auf dem offenen Ozean. „Alle Reisen wurden bereits gemacht und beschrieben. Es bleibt nur noch die ins Innere der Zeichen, der Bilder“, hat er sein Konzept selbst beschrieben.

Auch in der äußeren Welt haben ihn die Zeichen und Bilder fasziniert. Ghirri lichtete Werbetafeln, Schilder und Fotoplakate ab – und zwar genau wie seine Landschaften oder Architekturansichten frontal mit dem untrüglichen Blick des Landvermessers für Proportionen und Fixpunkte. Er zeigt eine Wirklichkeit, die sich „zunehmend in eine Fotografie gigantischen Ausmaßes verwandelt“. Die Fotomontage musste er nicht mehr vornehmen, sie hatte ja schon stattgefunden.

Seine Bilder haben einen ebenso großen Humor wie Irritationseffekt

Ghirri, der auch Surrealisten wie René Magritte verehrte, liebte das Spiel mit verschiedenen Schichten von Realität und mit Größenverschiebungen: Einen ebenso großen Humor wie Irritationseffekt haben seine Bilder aus dem Park Italia in Miniatura bei Rimini. Seinem Eiffelturm vor karger Küstenlandschaft haben die Essener Kuratoren ein Foto aus Paris beiseitegestellt: Ein Tourist (natürlich von hinten abgelichtet) hält ein Eiffelturm-Souvenir in der Hand.

In einem einzigen Bild aus L’Île-Rousse 1976 ist der Fotograf auch selbst zu sehen: Sein Gesicht verbirgt sich hinter dem Zwischenraum zwischen zwei Spiegeln auf einer öffentlichen Toilette. Man erkennt einen schlaksigen Typen mit dunklem Haarschopf und rot gestreiftem T-Shirt.

Einen melancholischer Clown vielleicht, vielleicht einen selbstreflexiven Intellektuellen, der sich bloß selbst nicht so wichtig nimmt und so wenig ins Zentrum rückt, wie er sich selbst nie in den großen Zentren aufgehalten hat. Sein Hauptaugenmerk galt immer seiner kleinen Heimatstadt Modena und ihrer Peripherie, den ganz normalen Bauprojekten, in denen ganz normale Menschen leben.

Bis 22. Juli. Museum Folkwang, Essen. Katalog (Mack) 45 Euro

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