Debatte Südamerikanische Wirtschaft: Auferstehend aus Ruinen
Korruption, Armut, Drogen: Gerade Südamerikas Krisen könnten dem gemeinsamen Markt Mercosur einen zweiten Frühling verschaffen.
Brasilien bietet in jüngster Vergangenheit Stoff für Politkrimis: Eine unter fragwürdigen Umständen abgesetzte Präsidentin (Dilma Rousseff) wird von ihrem korrupten Vize (Michel Temer) beerbt, der nur dank eines Paktes mit ebenfalls korrupten Abgeordneten nicht auch selbst im Gefängnis landet. Und eine Bevölkerung, die das Wort „Korruption“ nicht mehr hören kann, würde notfalls auch einen rechtspopulistischen Verfechter von Diktatur und Folter (Jair Bolsonaro) wählen – falls das Oberste Gericht nicht wegen Rassismus auch ihn aus dem Rennen nimmt.
Präsident Temer hat auf internationalem Parkett sichtlich Mühe, diesen Wirrwarr als „demokratische Normalität“ zu verkaufen, weshalb er lieber vom Wachstumspfad spricht, auf den das Land nach zwei Jahren Rezession nun wieder komme. Ein gefundenes Fressen ist Brasiliens Staatskrise hingegen für den US-Streaming-Dienst Netflix, der daraus fix eine spannende Serie machte („El Mecanismo“).
Es wäre kein Fehler, wenn die Bevölkerung sich auf diese Weise wieder für die Staatsführung interessierte und vor allem für das Gemeinwohl engagierte. Denn falls die Wahlen im Oktober ein Plebiszit gegen die Korruption werden, böte das die Chance auf eine politische Erneuerung Brasiliens mit Signalwirkung für die ganze Region.
Das wäre dringend nötig, denn der Rückhalt für die Demokratie in Südamerika schwindet. Die Bürger sind mit ihren Regierungen unzufrieden, die Vermittlungskanäle zwischen Gesellschaft und Politik erodieren weiter, hat die Bertelsmann-Stiftung im Regionalbericht ihres aktuellen BTI-Transformationsindex festgestellt. Einen Grund dafür sieht die Stiftung in der verfehlten Wirtschaftspolitik.
Soziale Ungleichheit
Unter den sozialistisch ausgerichteten Regierungen habe sich in Südamerika im letzten Jahrzehnt ein Rentiersystem verfestigt, in dem der Reichtum aus dem Rohstoffboom umverteilt wurde. Dabei hätten es die Regierungen versäumt, strukturelle Probleme wie geringe Produktivität und hohe soziale Ungleichheit grundlegend anzugehen. Und das rächt sich nun, denn die aus der Armut Aufgestiegenen wollen ihren neuen Status sichern.
Gedacht war das einmal ganz anders. Marktwirtschaft, Freihandel und Demokratie sollten sich gegenseitig befruchten und für Stabilität und Wohlstand sorgen. Unter dieser Prämisse und nach dem Vorbild der EU wurde 1991 der Gemeinsame Markt Südamerikas (Mercosur) gegründet. Die Gründungsmitglieder Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay erstrecken sich auf 72 Prozent der Fläche Südamerikas und verfügen über einen Binnenmarkt mit über 260 Millionen potenziellen Konsumenten.
Heute hat das Bündnis wenig Bedeutung, obwohl es weiterhin ein Sekretariat und ein Parlament in Uruguays Hauptstadt Montevideo unterhält. Kaum ein Südamerikaner wird auf Anhieb den Namen eines Abgeordneten im Mercosur-Parlament nennen können. Die Welt wartet noch immer auf einen funktionierenden gemeinsamen südamerikanischen Binnenmarkt, und auch zwanzig Jahre nach Beginn der Verhandlungen ist ein Freihandelsvertrag mit der EU nicht zustande gekommen.
Stattdessen haben strukturelle Ungleichgewichte, ideologische Differenzen, wirtschaftliche Krisen und geostrategische Ambitionen das Bündnis verwässert. Die Miniländer Uruguay und Paraguay fühlten sich stets von Brasilien und Argentinien übervorteilt. Brasilien sah im Mercosur immer nur ein Sprungbrett für seine eigenen Weltmachtambitionen und war nie zu mehr als kosmetischen Zugeständnissen bereit.
Zu ähnliche Produktpalette
Fortschritte bei der politischen Integration gab es vor allem dann, wenn die jeweils amtierenden Regierungen ideologisch auf einer Linie waren. Die wirtschaftliche Integration ist vorangekommen, doch hinter den Erwartungen zurückgeblieben, weil die Produktpalette der Länder zu ähnlich ist und vor allem Brasilien und Argentinien ihre protektionistischen Handelshemmnisse aufrechterhielten, was immer wieder zu Krisen führte.
Dass wirtschaftliche Krisen oft zu politischen Krisen führen, bestätigte sich nach der Schuldenkrise 2002 in Argentinien und dem darauf folgenden linkspopulistischen Jahrzehnt unter Nestor und Cristina Kirchner oder aktuell in der brasilianischen Staatskrise. Jedoch scheinen anders herum wirtschaftlicher und politischer Fortschritt nicht immer Hand in Hand zu gehen. Paraguay etwa ist seit Langem der wirtschaftliche Star Südamerikas mit einem Wachstum von durchschnittlich 5 Prozent im letzten Jahrzehnt. Doch die Armut im Land bleibt hoch und betrifft nach amtlichen Statistiken 26 Prozent der Bevölkerung.
Das Wachstum ruht auf drei Hauptsäulen: Der Export von Soja bringt dem Land jährlich knapp 1,6 Milliarden und Rindfleisch weitere 1,1 Milliarden US-Dollar Devisen ein. Das zweitgrößte Exportprodukt hingegen taucht in keiner Statistik auf: Drogen. Nach Schätzungen der nationalen Antidrogenbehörde werden in Paraguay jährlich 1,5 Milliarden US-Dollar mit Kokain und Marihuana erwirtschaftet. Politisch durchlebte das Land seit Mitte der 1990er Jahre immer wieder Staatsstreiche, politische Morde und Staatskrisen.
Krisen getrotzt
Bei allen Problemen hat der Mercosur auch seinen Verdienst: Er hat, im Gegensatz zu anderen Bündnissen wie dem Andenpakt und Unasur, bis heute trotz aller Krisen überlebt. Und er war das erste Regionalbündnis, das konkret Druck auf Venezuela ausübte, als das Land in den Autoritarismus abglitt. Im April 2017 suspendierten die Mercosur-Mitglieder Venezuela wegen Verstoßes gegen die Demokratieklausel.
Im regionalen Vergleich schneiden beim Transformationsindex BTI die Mercosur-Länder Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay besser ab als die Andenländer oder Mittelamerika. Und die ideologische Konvergenz liberaler Regierungen, die sich nach den Wahlen in Paraguay und Brasilien dieses Jahr abzeichnet, könnte dem Bündnis durchaus einen zweiten Frühling verschaffen.
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